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Ausschnitt aus Nancarrows Study for Player Piano No. 36.  Die vier verschiedenen Stimmen wurden mit unterschiedlichen Farben markiert. Die Lochgruppen ganz oben und unten steuern die Dynamik.

 

                         Nancarrows Kompositionen

                    Frühe Werke

                    Studies for Player Piano

                    Späte Werke und Transkriptionen

 

 Nancarrows Kompositionen

Der am 10. August 1997 verstorbene Komponist  Conlon Nancarrow, der sein Lebenswerk dem Player Piano widmete, gilt bereits heute als einer der bedeutendsten Komponisten und Wegbereiter zeitgenössischer Musik. Dabei entfaltet sich Nancarrows Größe und Bedeutung in seiner Beschränkung: der Beschränkung auf ein Instrument - das Player Piano -, der Beschränkung auf eine musikalische Variable - die Zeit -, sowie der Beschränkung auf kurze Kompositionen - die Gesamtdauer seiner Studies for Player Piano umfasst nicht einmal sechs Stunden (dies entspricht der Dauer des zweiten Streichquartetts von Morton Feldman). Und dennoch umspannen Nancarrows Studies einen musikalischen Kosmos. Die Zeit erlangt bei ihm eine neue musikalische Dimension. Die Geschwindigkeitsverhältnisse unterschiedlicher Stimmen sind quasi der Natur abgelauscht: die Schwingungsverhältnisse von konsonanten und dissonanten Klängen liefern die Grundlage für temporale Konsonanzen und temporale Dissonanzen. Neben die 'melodische' Polyphonie Johann Sebastian Bachs tritt die 'temporale' Polyphonie Nancarrows. Seine Studies for Player Piano gelten vielen als das Wohltempe(o)rierte Klavier des 20. Jahrhunderts.  

Nancarrows frühe, noch für Interpreten geschriebene Kompositionen umfassen Sarabande and Scherzo (Oboe, Fagott, Klavier), ein dreisätziges Trio (Klarinette, Fagott, Klavier), ein Streichquartett, ein Septett, Klaviermusik (Blues, Prelude, Three Two-Part Studies, Sonatina) sowie eine Komposition für kleines Orchester (Piece for Small Orchester). Ab ca. 1950 bis zu Beginn der achtziger Jahre komponierte Nancarrow ausschließlich Studies for Player Piano.  

In Nancarrows Werk stehen nicht Melodie und Harmonie im Vordergrund, sondern die Zeitverhältnisse (Metren, Rhythmen, Geschwindigkeiten), die sich mit einem Player Piano mit absoluter Präzision wiedergeben lassen. Dabei ist seine Kompositionstechnik extrem zeitaufwendig. Sie vollzieht sich in einem ungewöhnlichen dreistufigen Prozess:

Als erstes zeichnet Nancarrow die Tempoverhältnisse in Form von Temposkalen auf einen bis zu 30 Meter langen Papierstreifen, und zwar auf den Bruchteil eines Millimeters genau. Dies geschieht für jede einzelne Stimme. Dann überträgt er diese Temposkalen auf konventionelles Notenpapier. In diese Skalen komponiert er nun Tonhöhen und Tonlängen, wobei er eine selbst entwickelte Kurzschrift benutzt  (Punching Scores), die nur er vollständig entziffern kann. ‚Wenn ich dann beginne, die Komposition  zu schreiben, entstehen Melodie, Rhythmus und Harmonik gemeinsam. Ich skizziere die melodischen Linien niemals vorher.’ Im dritten Arbeitsgang stanzt er die Noten mit einer Handstanzmaschine direkt in den Papierstreifen, wobei er sich an den bereits gezeichneten Skalen orientiert.

Ähnlich den konsonanten und dissonanten Klängen unterscheidet Nancarrow zwischen konsonanten und dissonanten Geschwindigkeitsverhältnissen: Ein Grund für meine Arbeit mit Player Pianos war mein Interesse an dissonanten Geschwindigkeitsverhältnissen. Temporale Dissonanz ist fast so schwer zu definieren wie tonale Dissonanz. Ich würde ein Geschwindigkeitsverhältnis von 1 zu 2 nicht als dissonant definieren, würde aber ein Verhältnis von 2 zu 3 als mäßig dissonant bezeichnen; und weiter und weiter bis zum Extrem der irrationalen Geschwindigkeiten. Die Komposition mit zwei Stimmen im Verhältnis 2 zu Wurzel 2 ist wahrscheinlich die dissonanteste von allen, weil sie aus zwei Stimmen besteht, die niemals zusammenfinden...

Damit sich dem Zuhörer die Geschwindigkeitsverhältnisse besser offenbaren können, bevorzugte Nancarrow die Kanon-Form: Wenn man einen Kanon benutzt, wiederholt man die gleiche Melodie. Deshalb braucht man darüber nicht mehr nachzudenken und man kann sich auf die  temporalen Aspekte konzentrieren. Man vereinfacht das melodische Element und man kann den Tempoverhältnissen besser folgen.

Da Nancarrows Studies for Player Piano in der Originalversion nur selten aufführbar sind, weil keine geeigneten Instrumente zur Verfügung stehen, gab es immer wieder Bemühungen, seine Player Piano-Musik für Ensembles zu transkribieren. Dies ist – allerdings mit Einschränkungen – nur für die ersten 19 Studies möglich, die noch im konventionellen Notensystem notiert wurden. Die meisten der späteren Studies lassen sich – wegen hochkomplexer Zeitverhältnisse und unspielbaren Geschwindigkeiten – von menschlichen Interpreten nicht mehr realisieren. Nancarrow stand diesen Transkriptionen mit Skepsis gegenüber: Meine Seele ist in der Maschine - dies ist eine seltsame Art es auszudrücken, aber es ist grundsätzlich wahr. Die Studies wurden für Player Piano geschrieben und sie sollten auf einem Player Piano gespielt werden.

Es gibt mehrere Komponisten, die einige meiner Stücke arrangieren wollen... Aber ich bin darüber nicht sehr glücklich... Selbstverständlich erhalten sie mehr Farbe, und für die meisten Zuhörer besitzt die Idee einer live-Aufführung eine große Anziehungskraft. Im allgemeinen bevorzuge ich aber das Original.

Trotz dieser Einschränkung meinte er einmal, dass zumindest eine der Transkriptionen (3b) vielleicht sogar eindrucksvoller sei als das Original.

Jürgen Hocker©

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