Nancarrows frühe, noch für Interpreten geschriebene
Kompositionen umfassen Sarabande and Scherzo (Oboe, Fagott, Klavier), ein
dreisätziges Trio (Klarinette, Fagott, Klavier), ein Streichquartett,
ein Septett, Klaviermusik (Blues, Prelude, Three
Two-Part Studies, Sonatina) sowie eine Komposition für kleines Orchester (Piece
for Small Orchester). Ab ca. 1950 bis zu Beginn der achtziger Jahre
komponierte Nancarrow ausschließlich Studies for Player Piano.
In Nancarrows Werk stehen nicht Melodie und Harmonie im
Vordergrund, sondern die Zeitverhältnisse (Metren, Rhythmen,
Geschwindigkeiten), die sich mit einem Player Piano mit absoluter Präzision
wiedergeben lassen. Dabei ist seine Kompositionstechnik extrem zeitaufwendig.
Sie vollzieht sich in einem ungewöhnlichen dreistufigen Prozess:
Als erstes zeichnet Nancarrow die Tempoverhältnisse in
Form von Temposkalen auf einen bis zu 30 Meter langen Papierstreifen, und zwar
auf den Bruchteil eines Millimeters genau. Dies geschieht für jede einzelne
Stimme. Dann überträgt er diese Temposkalen auf konventionelles Notenpapier.
In diese Skalen komponiert er nun Tonhöhen und Tonlängen, wobei er eine selbst
entwickelte Kurzschrift benutzt (Punching Scores), die nur er vollständig entziffern kann. ‚Wenn
ich dann beginne, die Komposition zu
schreiben, entstehen Melodie, Rhythmus und Harmonik gemeinsam. Ich skizziere die
melodischen Linien niemals vorher.’ Im dritten Arbeitsgang stanzt er die
Noten mit einer Handstanzmaschine direkt in den Papierstreifen, wobei er sich an
den bereits gezeichneten Skalen orientiert.
Ähnlich den konsonanten und dissonanten Klängen
unterscheidet Nancarrow zwischen konsonanten und dissonanten
Geschwindigkeitsverhältnissen: Ein Grund für meine
Arbeit mit Player Pianos war mein Interesse an dissonanten Geschwindigkeitsverhältnissen.
Temporale Dissonanz ist fast so schwer zu definieren wie tonale Dissonanz. Ich würde
ein Geschwindigkeitsverhältnis von 1 zu 2 nicht als dissonant definieren, würde
aber ein Verhältnis von 2 zu 3 als mäßig dissonant bezeichnen; und weiter und
weiter bis zum Extrem der irrationalen Geschwindigkeiten. Die Komposition mit
zwei Stimmen im Verhältnis 2 zu Wurzel 2 ist wahrscheinlich die dissonanteste
von allen, weil sie aus zwei Stimmen besteht, die niemals zusammenfinden...
Damit sich dem Zuhörer die Geschwindigkeitsverhältnisse
besser offenbaren können, bevorzugte Nancarrow die Kanon-Form: Wenn
man einen Kanon benutzt, wiederholt man die gleiche Melodie. Deshalb braucht man
darüber nicht mehr nachzudenken und man kann sich auf die
temporalen Aspekte konzentrieren. Man vereinfacht das melodische Element
und man kann den Tempoverhältnissen besser folgen.
Da Nancarrows Studies for Player Piano in der
Originalversion nur selten aufführbar sind, weil keine geeigneten Instrumente
zur Verfügung stehen, gab es immer wieder Bemühungen, seine Player Piano-Musik
für Ensembles zu transkribieren. Dies ist – allerdings mit Einschränkungen
– nur für die ersten 19 Studies möglich, die noch im konventionellen
Notensystem notiert wurden. Die meisten der späteren Studies lassen sich –
wegen hochkomplexer Zeitverhältnisse und unspielbaren Geschwindigkeiten – von
menschlichen Interpreten nicht mehr realisieren. Nancarrow stand diesen
Transkriptionen mit Skepsis gegenüber: Meine
Seele ist in der Maschine - dies ist eine seltsame Art es auszudrücken, aber es
ist grundsätzlich wahr. Die Studies wurden für Player Piano geschrieben und
sie sollten auf einem Player Piano gespielt werden.
Es gibt mehrere
Komponisten, die einige meiner Stücke arrangieren wollen... Aber ich bin darüber
nicht sehr glücklich... Selbstverständlich erhalten sie mehr Farbe, und für
die meisten Zuhörer besitzt die Idee einer live-Aufführung eine große
Anziehungskraft. Im allgemeinen bevorzuge ich aber das Original.
Trotz dieser Einschränkung meinte er einmal, dass
zumindest eine der Transkriptionen (3b) vielleicht sogar eindrucksvoller sei als das
Original.
Jürgen Hocker©
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