Kurzbiographie
(English
Version)
My Soul is in the Machine
*
Conlon
Nancarrow und die Wiederentdeckung des
Player Pianos
Jürgen Hocker,
Bergisch Gladbach.
Am
10. August 1997
starb in Mexico der musikalische Einsiedler und
Player Piano - Komponist Conlon Nancarrow im Alter von 84 Jahren. Noch
vor wenigen Jahren fast unbekannt, gilt er heute als einer der
bedeutendsten Komponisten und Wegbereiter zeitgenössischer Musik. Für György
Ligeti ist er gar der wichtigste Komponist der zweiten Hälfte unseres
Jahrhunderts. Dabei entfaltet sich Nancarrows Größe und Bedeutung in
seiner Beschränkung: der Beschränkung auf ein
Instrument - das Player Piano -, der Beschränkung auf eine musikalische
Variable - die Zeitverhältnisse
-, sowie der Beschränkung auf meist kurze
Kompositionen - die Gesamtdauer seiner Studies
for Player Piano umfasst
nicht einmal sechs Stunden. Und dennoch
umspannen Nancarrows Studies einen musikalischen Kosmos. Neben die 'melodische'
Polyphonie Johann Sebastian Bachs tritt die 'temporale' Polyphonie
Nancarrows. Seine Studies for Player Piano gehören inzwischen zu den
herausragenden Klavierkompositionen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Jugend
und erste Kompositionen
Conlon Nancarrow wurde am 27. Oktober1912 in Texarkana in den USA
geboren. Schon in seiner
Jugend zeigte er einen ausgeprägten Individualismus, eine Eigenart, die
er zeitlebens beibehalten sollte. Nach dem Besuch der High School
in Texarkana ging er auf Drängen seines Vaters - der einmal sagte:
„Mache erst eine ordentliche Ausbildung, und dann kannst Du tun was Du
willst“ - zur Vanderbuilt University nach Nashville und begann ein
Ingenieurstudium, das er aber nach wenigen Wochen wieder abbrach. Als er
einmal zu spät zum Unterricht kam, meinte sein Lehrer, bei ihm käme
niemand zu spät. Nancarrow sagte "o.k", machte auf dem Absatz
kehrt und verließ den Unterrichtsraum wieder.
Jugendbild Nancarrows
Nancarrow, der schon früh großes musikalisches Talent
zeigte und Trompete spielen lernte - Versuche, das Klavierspiel zu
erlernen blieben erfolglos - schrieb sich
in Cincinnati im Musikkonservatorium ein. Dort lernte er, gerade
erst 19 Jahre alt, die 17-jährige Musikstudentin Helen Rigby kennen, und
beide heirateten kurz darauf. Bezeichnend war, dass Nancarrows Eltern erst
später durch seine Frau Helen von dieser Verbindung erfuhren. Die Ehe war
jedoch nicht von Dauer; bereits nach wenigen Jahren trennte man sich wieder.
Nancarrows erste Frau Helen
Aus dieser Zeit stammen seine frühesten erhalten
gebliebenen Kompositionen. Nancarrow, der immer in der Gegenwart lebte und
Vergangenes gerne verdrängte, hatte in den späteren Jahren seine
Jugendwerke praktisch vollständig vergessen. Als einige davon in den
achtziger Jahren im American Music Center wieder auftauchten, meinte er
dazu:
Freunde
schickten mir die Kopie einer meiner Partituren, die sie im American Music
Center aufgefunden hatten - Sarabande und Scherzo für Oboe, Fagott und
Klavier. Ich vermute, dass
sie von mir stammen, denn es ist meine Handschrift und meine Signierung;
aber ich habe keine Erinnerung daran außer einem vagen Gefühl, dass
mir etwas im Scherzo vertraut vorkommt. Als ich in Cincinnati war,
komponierte ich einige Stücke. Mag sein, dass
dieses eines davon ist, aber wie kam es in das American Music Center?
Einige Wochen darauf schrieb er an einen Freund:
Ich
bekam gerade einen Brief vom American Music Center, in dem man mir
mitteilte, jemand aus Deutschland habe meine Stücke Sarabande und Scherzo
aufgefunden. Man wollte wissen, ob ich eine Kopie
besitze, denn sie wollten nicht dafür verantwortlich sein, wenn
dieses kostbare Juwel verloren ginge. Ich antwortete ihnen, dass
es mich nicht sonderlich interessieren würde, ob es verloren geht oder
nicht.
Nach jahrzehntelanger Beschäftigung mir dem Player Piano
fiel es Nancarrow schwer, seine eigenen Jugendwerke, die noch für
menschliche Interpreten geschrieben waren, zu akzeptieren:
Welchen
Wert meine (frühen) Stücke
auch haben mögen - die Player Piano-Kompositionen sind sicherlich zehnmal
bedeutender als die Vor-Player Piano-Stücke.
Conlon Nancarrow, 1931/1932
22-jährig ging Nancarrow nach Boston ans Malkim
Konservatorium, zu einer Zeit, als auch Arnold Schönberg dort lehrte.
Nancarrow konnte sich später jedoch nicht erinnern, jemals bei Schönberg
eine Vorlesung gehört zu haben. Er studierte Kontrapunkt bei Sessions und
nahm einige Privatstunden bei Slonimsky und Piston. Seine große Liebe
galt dem Jazz - er spielte Trompete in verschiedenen Jazz- und
Tanzkapellen.
Kampf
gegen den spanischen Faschismus und Emigration
Nancarrow, der wie viele Intellektuelle der damaligen Zeit
vom kommunistischen Gedankengut beeinflusst war, meldete sich als 25-jähriger
freiwillig zur Lincoln Brigade, um in Spanien gegen das faschistische
Franco-Regime zu kämpfen. Es ist wiederum bezeichnend, dass während
seiner zweijährigen Abwesenheit weder seine Frau Helen noch seine Eltern ein
Lebenszeichen von ihm erhielten. Auf die Frage, ob er in dieser Zeit die
spanische Sprache oder die spanische Kultur kennen gelernt habe, meinte er
nur:
Ich
bin nicht zu einer Kunstexkursion nach Spanien gegangen. Die meiste Zeit
lag ich im Schlamm und musste von einer Front an die andere.
Während seiner Abwesenheit erschienen drei seiner
Kompositionen - Prélude, Blues und Toccata - in der von Henry Cowell
herausgegebenen Zeitschrift "New Music Edition". Obwohl
Nancarrow diese Kompositionen später für nicht sehr bedeutend hielt,
erregten sie damals doch Aufsehen. Aaron Copland schrieb 1938 in
"Modern Music":
Conlon
Nancarrow ist für mich ein völlig neuer Name. Ich begegnete ihm zuerst
im Januarheft 1938 von "New Music", das eine Toccata für
Violine und Klavier sowie ein Prélude und einen Blues für Klavier
enthielt - alles von Mr. Nancarrow. Seine Biographie ist kurz: 1912 in
Texarkana, Arkansas geboren. Studierte für zwei Jahre am Cincinnati
Konservatorium. Fuhr 1936 nach Europa. Seit seiner Rückkehr keine Arbeit.
Ging nach Spanien, um gegen den Faschismus zu kämpfen. Es bleibt nur zu
hoffen, dass
er gesund heimkehrt. Sonst hat Amerika einen talentierten Komponisten
verloren. In der Tat zeigen diese kurzen Kompositionen eine bemerkenswerte
Sicherheit, dazu einen hohen Grad an Erfindungskraft und Phantasie, die
ihm sofort einen Platz unter unseren talentierten jüngeren Komponisten
einräumt.
Bereits Nancarrows Jugendwerke stellten extreme
Anforderungen an die Interpreten. So verlangt z.B. der Beginn der Toccata
für Klavier und Violine im Klavierteil die ca. 200malige Wiederholung des
gleichen Tones, zum Teil oktaviert und „As fast as possible“- so
schnell wie möglich. Da dies unweigerlich in einem Muskelkrampf des
Pianisten endet, hat Nancarrow die Klavierstimme in späteren Jahren auf
eine Notenrolle gestanzt, und das Player Piano führt die immensen
Schwierigkeiten nun klaglos aus. Die nicht minder anspruchsvolle
Violinstimme der Toccata kann hingegen heute von guten Geigern gespielt werden.
1939 gelang Nancarrow unter abenteuerlichen Umständen die
Flucht aus den Bürgerkriegswirren Spaniens, und er kehrte in die USA nach
New York zurück. Dort wurde erstmals eine seiner Kompositionen - ein
Septett - öffentlich aufgeführt, eine Aufführung, die für Nancarrow zu
einem Schlüsselerlebnis werden sollte und die nach seiner Ansicht in
einem Desaster endete.
Das
Septett wurde tatsächlich einmal in New York aufgeführt, als ich
aus Spanien zurückkam - ich glaube es war 1941. In jedem Fall war
es ein Stück, das gespielt wurde! Es war nicht besonders schwierig. Es
gab einen Dirigenten. Die "League of Composers" verfügte über
sehr gute Musiker. Sie kamen von den dortigen Rundfunksendern. Es gab zwei
Proben. Zur einen Probe kamen vier Musiker. Zur zweiten Probe kamen drei
andere und einer der Musiker, der schon bei der ersten Probe anwesend war.
Es gab also keine Sitzung mit der ganzen Gruppe. Die sieben Stimmen des
Septetts waren zwar unabhängig
notiert, aber immer im Taktsystem. Der Takt war da - während des ganzen
Stückes. Und als sie dann spielten, kamen bereits zu Beginn einige
Instrumente aus dem Takt. Während des ganzen Stückes waren sie aus dem
Takt. Alles war verloren - es war ein absolutes Desaster. Nun, seit ich
Musik schreibe träume ich davon, die Interpreten loszuwerden.
Als Nancarrow einen neuen amerikanischen Pass beantragte -
er hatte seinen alten in den spanischen Kriegswirren verloren - musste er
feststellen, dass er in den USA wegen seiner politischen Aktivitäten zu
einer unerwünschten Person geworden war:
Als
ich zurückkam, wollte ich in den Staaten bleiben, und ich beantragte
einen Pass
- ich weiß nicht mehr für wohin. Aber ich bekam keinen Pass.
Man verweigerte ihn mir, weil ich ein unerwünschtes „Etwas“ geworden
war, ...ich habe das Wort vergessen. Ich erinnere mich nicht einmal mehr
daran, was sie sagten. Auf jeden Fall aber sagten sie nein. Sie sagten:
"Sie werden nie wieder einen Pass
bekommen." Ich hatte nun nur die Wahl zwischen
Kanada
und Mexico, und
ich wäre nicht im Traum nach
Kanada
gegangen - es gefiel mir nicht und
war außerdem zu kalt. In Mexico gab es eine große
spanisch-republikanische Exil-Gemeinschaft, und die mexikanische Regierung
öffnete gerade die Tore.
Ende 1940 emigrierte Nancarrow nach Mexico, wo er die nächsten
Jahrzehnte in völliger Abgeschiedenheit quasi als musikalischer Eremit
leben sollte. Dort dürfte seine dreisätzige Sonatina für Klavier
entstanden sein, die wiederum extreme Anforderungen an die Pianisten
stellt.
Die
Sonatina war meine letzte Komposition für Solo-Klavier. Sie ist zwar ein
wenig schwierig zu spielen, aber im Grunde doch einfach. Aber sie ist
nicht sehr "pianistisch", und Pianisten lieben aus gutem Grunde
pianistische Stücke. Ich vermute, dies ist der Grund, warum sie sie nicht
aufführen wollen... .Es war das erste Stück, das ich gestanzt habe. Ich
habe damit das Stanzen geübt, bevor ich mit anderen Dingen begann. Ich
habe das Gefühl, dass
alle Pianisten entmutigt wären, wenn sie die Player Piano-Version hören
würden. Wahrscheinlich könnte es niemand außer Horowitz in dieser
Geschwindigkeit spielen, aber selbstverständlich würde dieser
damit nichts zu tun haben wollen.
Die Notenrolle für Player Piano entstand Ende der
vierziger Jahre:
Ich
wollte meine Musik hören. Ich habe sie niemals gespielt gehört. Manche
Komponisten sind auch Pianisten und können ihre Musik zumindest auf dem
Klavier spielen; aber ich kann nicht einmal das, weil ich kein Pianist
bin.
Nancarrows
Weg zum Player Piano
Um 1945 startete Nancarrow nochmals den Versuch einer
Live-Aufführung einer seiner Kompositionen. Dies sollte jedoch für viele
Jahrzehnte der letzte Versuch sein:
In
den vierziger Jahren hatte ich ein Erlebnis hier in Mexico. Es gab dort
eine Konzertserie mit zeitgenössischer Musik - mehr oder weniger zeitgenössischer
Musik. Rodolfo Halffter, der für diese Serie zuständig war, war einer
meiner Freunde, und er fragte mich, ob ich nicht etwas für diese Konzerte
schreiben wolle. Ich tat es - ich schrieb ein Trio für Klarinette, Fagott
und Klavier. Man darf nicht vergessen - dies ist viele Jahre her, und das
Stück war nichts besonderes, so im Stil von Bartók...
Ich ging zur ersten Probe. Ich kannte den Pianisten recht gut, und
später erzählte er mir, der Fagottist und der Klarinettist hätten
gesagt, sie könnten das Stück nicht spielen, weil das Publikum denken würde,
sie würden falsche Noten spielen. Es waren harmonische Fehler! Es war
nicht sehr kompliziert, aber sie spielten es nicht. Ich habe heute noch
das Programmheft, das für die Aufführung vorgesehen war. Die temporalen
Aspekte waren nicht sehr einfach, ein bisschen
"tricky", aber
die Ausflüchte, die sie machten, bezogen sich nur auf die Harmonien. Sie
wollten nicht, dass
die Leute dachten, sie würden falsche Noten spielen.
Von da an sann Nancarrow ernsthaft darüber nach, wie er
seine komplexe Musik auch ohne Interpreten verwirklichen könnte. Er erwarb in Mexico ein
Player Piano, ein Instrument, das er bereits aus seinem Elternhaus kannte,
und er reiste 1947 nach New York - es sollte übrigens für 35 Jahre die
einzige Unterbrechung seines mexikanischen Exils sein - um sich dort eine
alte Stanzmaschine für Player Piano-Lochstreifen nachbauen zu lassen. Das
„Original“ der Stanzmaschine hatte er sich von dem bedeutenden
Notenrollen-Arrangeur Lawrence Cook (QRS) ausgeliehen. In New York schloss
er auch seine zweite Ehe mit Annette Margolis, einer bildenden Künstlerin,
die zu dem Kreis der Muralisten Diego Rivera und Orozco gehörte, und die
er einige Jahre zuvor in Mexico kennen gelernt hatte.
Conlons
zweite Frau Annette Margolis mit ihren zwei Söhnen
Um 1949 entstand seine erste Komposition für Player Piano,
die Study for Player Piano No. 3a.
Nancarrow nennt alle seine Kompositionen für Player Piano nur Studies,
und die Nummerierung entspricht nur ungefähr der Reihenfolge ihrer
Entstehung. Study No.3a ist der erste Satz der inzwischen legendären
Boogie-Woogie-Suite, die in hohem Maße vom Jazz beeinflusst ist. In der
von Nancarrow gewünschten rasenden Geschwindigkeit ist dieses Stück von
Menschenhand nicht spielbar. Die Unspielbarkeit seiner Player
Piano-Kompositionen war für Nancarrow jedoch niemals Selbstzweck:
Ich
schreibe nur ein Stück Musik. Und es geschieht von selbst, dass
viele dieser Stücke unspielbar sind. Ich habe nicht die geringste
Absicht, Stücke unspielbar zu machen. Einige wenige meiner Stücke können
sogar ganz leicht gespielt werden - einige wenige.
Eines der
beiden Ampico-Player Pianos der Klaviermarke Marshall&Wendell mit
entfernter Frontseite. Foto: Jürgen Hocker
Das Player Piano, das häufig auch als elektrisches Klavier
bezeichnet wird, enthält als einzigen elektrischen Baustein einen Motor,
der eine Vakuumpumpe antreibt. Alle anderen Steuerungen und Funktionen
werden mit Hilfe von Vakuum ausgeführt. In einem Player Piano befinden
sich bis 88 kleine Blasebälge - ein Balg für jeden der 88 Klaviertöne.
Soll nun ein Ton angeschlagen werden, so wird der entsprechende Balg -
über einen Befehl von der Notenrolle - luftleer gesaugt. Der zuvor
geöffnete Balg klappt zu, und diese Bewegung wird auf den hinteren Teil
der Klaviertasten übertragen, d.h. ein Ton wird angeschlagen. Durch Erhöhung
des Vakuums lässt sich ein Balg schnell leer saugen - es erklingt ein
lauter Ton - oder der Balg wird durch geringes Vakuum langsam leer gesaugt
- dann erklingt der Ton leise. Auch der Lochstreifen wird über einen
entsprechenden Lesekopf (Gleitblock) mit Hilfe von Vakuum abgelesen.
Notenrollenkasten eines
Selbstspielklaviers. Die Notenrolle (oben) wird über den Gleitblock
(Mitte) gezogen und auf der unteren Spule aufgerollt. Der Gleitblock
enthält etwa 100 Öffnungen, die durch die Notenrolle zum Tonanschlag
freigegeben werden. Der Luftimpuls wird durch die unten sichtbaren
Leitungen zu den Tonventilen geleitet. Links: Gleitblock ohne Rolle,
rechts mit Rolle. Foto: Heinrich Mehring.
1971 - zwanzig Jahre nach der Trennung von Annette Margolis
- heiratete Nancarrow in Mexico City die Japanerin Yoko Sugiura Yamamoto.
Im gleichen Jahr wurde David Macoto (Mako) geboren, und Nancarrow, der
bislang sehr zurückgezogen gelebt hatte, wurde zu einem treu sorgenden
Familienvater. Bis zu seinem Tod lebte er mit Yoko und Mako in enger
Verbundenheit.
Dennoch
lebte Nancarrow 30 Jahre in musikalischer Isolation. Bis in die 50er Jahre hatte er noch die wichtigsten
Musikzeitschriften abonniert, um wenigstens über die aktuellen
musikalischen Entwicklungen informiert zu sein. Wegen
der Unzuverlässigkeit des mexikanischen Postsystems bestellte er
die Zeitschriften jedoch wieder ab, so dass er später keinerlei Kontakt
zur internationalen Musikszene mehr hatte.
Nancarrows frühe Werke sind nicht nur vom Jazz beeinflusst
- einige zeigen auch Anklänge an die spanische Folklore, wie z.B. die
Study No.12, die viele Elemente des Flamenco enthält. Ein Kritiker
meinte einmal, es sei ein Mysterium, wie es Nancarrow gelingt, mit einem
mechanischen Klavier eine solch emotionale Musik zu machen. Als einmal ein Freund bemerkte: "His soul is in the
machine", meinte Nancarrow:
Ja,
meine Seele ist in der Maschine - dies ist eine seltsame Art es auszudrücken, aber es ist grundsätzlich wahr. Die Studies
wurden für Player Piano geschrieben und sie sollten auf einem Player
Piano gespielt werden.
Es
gibt mehrere Komponisten, die einige meiner Stücke arrangieren wollen...
Aber ich bin darüber nicht sehr glücklich...
Selbstverständlich
erhalten sie mehr Farbe, und für die meisten Zuhörer ist die Idee
einer live-Aufführung eine große Attraktion. Im allgemeinen bevorzuge
ich aber das Original.
Musikalische
Wurzeln - komplexe Tempoverhältnisse
Bei dem Versuch, Nancarrows musikalische Wurzeln und
Vorbilder zu ergründen, ist ein Einblick in seine umfangreiche
Schallplattensammlung aufschlussreich: Vorwiegend Schellackplatten mit
ethnischer Musik, darunter z.B. nicht weniger als sechzehn Alben aus
Afrika, Aufnahmen aus Arabien, Cuba, China, Indonesien, Bali, Sumatra,
Java, Haiti, Brasilien u.s.w. Daneben eine umfangreiche Jazz-Sammlung,
vorwiegend mit Aufnahmen von Louis Armstrong, Jelly Roll Morton und Bessie
Smith. Schwerpunkte bei der sogenannten klassischen Musik sind Bach,
Strawinsky und Bartók. Das 19. Jahrhundert mit Komponisten wie Mozart,
Beethoven, Schubert oder Brahms fehlt vollständig und scheint für
Nancarrow überhaupt nicht existiert zu haben.
Als 18jähriger hörte er erstmals Strawinskys Frühlingsopfer:
Das
war eine echte Offenbarung. Damals hörte ich praktische keine zeitgenössische
Musik, und plötzlich wurde ich mit dem Frühlingsopfer konfrontiert - ich
war geradezu überwältigt. Es war in Cincinnati. Ich hörte es dort in
einem Konzert, und es eröffnete sich mir eine neue Welt.
1983 schreibt er an einen Freund:
Ich
wünschte, Du könntest Ligetis zweites Streichquartett hören. Für
mich ist es ein direkter Nachkomme von Bartóks viertem, einem der
Höhepunkte der Musik unseres Jahrhunderts...
Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich immer gesagt habe,
Strawinsky habe den wichtigsten Einfluss
auf meine Musik gehabt. Abgesehen davon, dass
er einer meiner Lieblingskomponisten ist, erinnert meine Musik überhaupt
nicht an die seine. Aber meine Musik erinnert an Bartók. Ich glaube,
Strawinskys
Einfluss
beruhte hauptsächlich auf seinen Ideen.
Bei Nancarrow haben die Zeitverhältnisse absolute Priorität
gegenüber Melodie und Harmonie. Er bevorzugt für seine komplexen Werke
die Kanonform - vergleichbar mit der Fugenform bei Bach - und die
„Melodie“ dient ihm als Hilfsmittel, um die Tempoverhältnisse in
seinen Kompositionen deutlich hörbar zu machen.
Wenn
man einen Kanon benutzt, wiederholt man die gleiche Melodie. Deshalb
braucht man darüber nicht mehr nachzudenken und man kann sich auf die
temporalen Aspekte konzentrieren.
Man vereinfacht das melodische Element und man kann den Tempoverhältnissen
besser folgen.
Von entscheidendem Einfluss auf Nancarrows musikalische
Entwicklung war die Lektüre von Henry Cowells Buch "New Musical
Resources" - Neue musikalische Quellen. Darin beschreibt Cowell
komplexe Tempoverhältnisse, und er schlägt zur Realisierung dieser
unspielbaren Musik das Player Piano vor. Nancarrow meinte hierzu:
Seit
ich komponiere, habe ich immer mit Tempoverhältnissen, Rhythmen u.s.w.
gearbeitet. Und dieses Interesse wuchs ständig. Als ich dann Cowells Buch
las, war dies ein großer Schritt nach
vorne. Mir erzählte einmal jemand - ich vergaß wer es war - Cowell habe
immer über diese Dinge wie Polyrhythmus und so weiter gesprochen, aber
weder er noch Ives benutzten jemals Player Pianos, welches der ideale Weg
gewesen wäre, diese Dinge zu realisieren. Es überrascht mich sehr, dass
er es niemals tat. Ich habe Cowell ein einziges mal getroffen. Er bat mich
um Tonbänder mit meiner Musik und ich schickte sie ihm. Seitdem habe ich
nie
mehr etwas von ihm gehört.
Als Beispiel soll hier Nancarrows bekannteste Player Piano-Komposition
dienen, Study No. 21,
der sogenannte "Canon X". Hierbei handelt es sich um einen
streng zweistimmigen Kanon. Die erste Stimme beginnt in der tiefen Lage,
langsam, mit etwa 4 Anschlägen pro Sekunde. Kurz darauf folgt die zweite
Stimme im Diskant mit der unspielbaren Geschwindigkeit von fast 40 Tönen
pro Sekunde. Nun wird die langsame Stimme kontinuierlich schneller,
während die Geschwindigkeit der schnellen Stimme abnimmt. Etwa in der
Mitte der Komposition treffen sich die Geschwindigkeiten. Am Ende erreicht
die ursprünglich langsame Stimme die atemberaubende Geschwindigkeit von
etwa 120 Anschlägen pro Sekunde.
Beginn
der Study No. 21. Die tiefe Stimme beginnt mit etwa 4 Anschlägen pro
Sekunde. Kurz darauf setzt die zweite Stimme mit ca. 40 Anschlägen pro
Sekunde ein.
Etwa
in der Mitte der Study No. 21 sind die Stimmen gleich schnell.
Am
Ende der Study No. 21 hat die ursprünglich langsame Stimme eine
Geschwindigkeit von über 120 Anschlägen pro Sekunde erreicht. Damit die
langsame Stimme hörbar bleibt, wurde sie bis 5-fach oktaviert.
Modifizierung
der Klavierhämmer
Nancarrow hat seine Player Pianos in vielfältiger Weise
modifiziert. So hat er z.B. die Klavierhämmer präpariert, um einen
cembaloähnlichen klaren Klang zu bekommen und damit die Transparenz
seiner vielschichtigen Kompositionen zu erhöhen.
Am
Anfang versuchte ich verschiedene Möglichkeiten. Das erste war eine
sogenannte Mandolinen-Einrichtung. Sie besteht aus einem Holzstab mit
einer Menge kleiner Lederstreifen, an denen Metallteile befestigt sind,
und die vor den Saiten hängen. Man kann diesen Holzstab herablassen oder
hochziehen, und mir gefiel die Idee, sowohl einen normalen als auch einen
modifizierten Klavierklang zur Verfügung zu haben. Unglücklicherweise
verknäuelten sich die Lederstreifen - besonders bei lautem Spiel. Dann tränkte
ich die Hämmer mit Lack, um den Filz zu härten. Das war nicht schlecht,
aber es war nicht das, was mir vorschwebte. Ich versuchte verschiedene
andere Wege und entschied mich dann für folgendes: bei einem
Klavier wurden die Hartholzhämmer nach dem Entfernen des Filzes mit
Blechstreifen überzogen, und bei dem anderen
Klavier wurden die Hammerfilze mit Lederstreifen überzogen, die
ihrerseits kleine Metallnägel enthielt wie sie bei Polstermöbeln
verwendet werden.
Hammerleiste (ausgebaut) von Nancarrows Player Piano. Foto: Jörg
Borchardt.
Der einzige Versuch Nancarrows in Mexico, aus seiner
Anonymität herauszutreten und seine Player Piano-Musik der Öffentlichkeit
vorzustellen, verlief wenig erfolgreich. Unter großem Aufwand schaffte er
1962 seine beiden Player Pianos in den Konzertpalast Bellas Artes in
Mexico City, und die wenigen Besucher, die zu seinem Konzert kamen, waren
seine Freunde, die seine Musik sowieso schon kannten. Seitdem war
Nancarrow nicht mehr bereit, seine Instrumente für Konzerte zur Verfügung
zu stellen.
Er meinte einmal:
Üblicherweise
wünschen sie mich und ein Klavier, was außerhalb jeglicher Diskussion
ist. ..
Auch der Aufführung seiner Kompositionen durch ein anderes
geeignetes Player Piano stand er lange Zeit skeptisch gegenüber, und auf
eine Anfrage in den 70er Jahren aus Europa hin äußerte er sich ein wenig
amüsiert:
Ich
hoffe, er denkt nicht an ein Taschenklavier, oder noch schlimmer, wie in
dem Brief, den ich gerade aus Schweden erhielt, in dem ich eingeladen
wurde, selbst zu spielen. Ich denke nicht im Traum an eine "live"-Aufführung
- selbst hier (in Mexico) nicht.
Ich tat es einmal vor zwanzig Jahren - und ich habe es gehabt. Ich glaube,
es würde einfach nicht funktionieren...
Ich benötigte etwa ein Jahr, um
die Klaviere so einzurichten, wie ich sie haben wollte. Nein, es ist zu
kompliziert. Trotzdem - wenn meine Werke doch jemals aufgeführt werden
sollten, so wäre ich gerne dabei, um zu sehen, wie sie gespielt werden
(ein Wunsch, der später in Erfüllung gehen sollte).
Erst 1986 ließ sich Nancarrow davon überzeugen, dass ein
richtiges Player Piano in einem Konzert - quasi auf der Bühne - doch
einige Vorteile gegenüber einer Tonbandwiedergabe hat: Der Ablauf des
Lochstreifens, die Bewegung der Tasten und der originale Klang eines
Klaviers oder Flügels führen zu einem wesentlich sinnlicheren
Musikerlebnis. Nancarrow unternahm mit dem Autor dieses Beitrags und
dessen nach den Angaben des Komponisten modifiziertem selbstspielenden
Ampico-Bösendorfer Flügel mehrere Konzertreisen, u.a. nach Amsterdam, Köln,
Berlin, Hamburg, Wien und Paris, und er wurde überall mit „standing
ovations“ gefeiert.
Nancarrows
Kompositionstechnik
Nancarrows Kompositionstechnik ist extrem zeitaufwendig. Er
benutzte einen ungewöhnlichen dreistufigen Prozess.
Üblicherweise
plane und schreibe ich die gesamte Studie, bevor ich mit dem Stanzen
beginne. Ich schreibe es jetzt
in einer Weise, dass
niemand es wirklich lesen kann;
die ersten zwanzig Studies habe ich
allerdings in Standard Notenschrift notiert.... Alles war additiv, bezogen
auf eine kleinste Einheit. Heute verwende ich in den meisten meiner
Studies irrationale Zeitverhältnisse. Natürlich weiß ich mehr oder
weniger was ich vorhabe, und ich habe einen Gesamtplan des Stückes, bevor
ich anfange.
Zuerst
markiere ich auf einer leeren Papierrolle alle Tempoverhältnisse, wobei
ich als Maßeinheit den kleinsten geplanten Notenwert benutze. Ich zeichne
die Skalen der gesamten Komposition, vom Anfang bis zum Ende, auf eine
leere Papierrolle. Es ist sehr exakt, so exakt wie es mir möglich ist...
Dann übertrage ich die gezeichneten Proportionen von der Notenrolle auf
Notenpapier. Ich lege die Tempoverhältnisse vor den Tonhöhen fest. Die
markierte Notenrolle zeigt noch keine Rhythmen, sondern nur Serien von
sechzehntel Noten oder was auch immer
Ähnlich den konsonanten und dissonanten Klängen
unterscheidet Nancarrow zwischen konsonanten und dissonanten
Geschwindigkeitsverhältnissen.
Nancarrows Stanzmaschine.
Foto: Jürgen Hocker
Ein
Grund für meine Arbeit mit Player Pianos war mein Interesse an
dissonanten Geschwindigkeitsverhältnissen. Temporale Dissonanz ist fast
so schwer zu definieren wie tonale Dissonanz. Ich würde ein
Geschwindigkeitsverhältnis von 1 zu 2 nicht als dissonant definieren, würde
aber ein Verhältnis von 2 zu 3 als mäßig dissonant bezeichnen;
und weiter und weiter bis zum Extrem der irrationalen Geschwindigkeiten.
Die Komposition mit zwei Stimmen im Verhältnis 2 zu Wurzel 2 ist
wahrscheinlich die dissonanteste von allen, weil sie aus zwei Stimmen besteht, die niemals
zusammenfinden...
1971 heiratete
Nancarrow in Mexico City die japanische Archäologin Yoko Sugiura
Yamamoto, mit der er einen Sohn Mako hatte.
Conlon, Yoko und Mako
Kompositionen
für zwei Player Pianos - Probleme bei der Synchronisierung
Nachdem Nancarrow die Möglichkeiten eines Player Pianos ausgelotet hatte, begann er in den siebziger
Jahren mit Kompositionen für zwei
Player Pianos. Es entstanden die Studies No. 40, 41, 44 und 48, die ohne
Zweifel zu den Höhepunkten zeitgenössischer Klaviermusik zählen.
Dennoch kehrte Nancarrow wieder zu einem
Player Piano zurück, weil es ihm nicht gelang, zwei Instrumente exakt zu
synchronisieren.
Ich
wünsche mir zwei synchronisierte Klaviere, so dass
ich alles exakt ausarbeiten kann und alle Möglichkeiten habe. Ich weiß, dass
die Synchronisierung theoretisch möglich ist, aber ich kenne niemanden,
der es tun könnte...
Ich bin frustriert, dass
ich sie nicht synchronisieren kann...
Jedes Mal
wenn ich eine der Studies für zwei Player Pianos spiele, passiert etwas
anderes. Dies gefällt mir gar nicht. Es ist alles so zufällig...
1992 erwarb der Autor auf Drängen Ligetis einen zweiten
Ampico-Selbstspielflügel, der ebenfalls nach Nancarrows Angaben
modifiziert wurde und für öffentliche Aufführungen zur Verfügung
steht. Mit Hilfe einer Computersteuerung, die gemeinsam mit Horst Mohr und
Dr. Walter Tenten entwickelt wurde, gelang es nun erstmals, zwei Player
Pianos exakt zu synchronisieren, und anlässlich der Donaueschinger
Musiktage 1994 fand die Uraufführung von Nancarrows Study
No. 40 für zwei Player Piano
Mit Hilfe dieser beiden über Computer synchronisierten
Ampico-Selbstspielflügel war es erstmals möglich, Nancarrows
Studies für zwei Player Pianos auf Originalinstrumenten aufzuführen.
Donaueschingen 1994. Foto: J. Hocker
György
Ligeti - Bewunderer und Förderer Nancarrows
Vergleiche hierzu den Übersichtsartikel
Ligeti und Nancarrow
Nancarrows Musik konnte nicht ohne Folgen bleiben:
Komponisten wie James Tenney, Tom Johnson, Wolfgang Heisig, Sabine
Schäfer, Michael Denhoff, Daniele
Lombardi, Krzysztof Meyer, Steffen Schleiermacher, Gerhard Stäbler,
Daniel N. Seel, Georg Hajdu, Kyoshi Furukawa sowie der Pianist
Marc-André Hamelin waren von seinen Kompositionen fasziniert
und schrieben ebenfalls Originalkompositionen für Player Piano. Einer der
größten Verehrer und Förderer Nancarrows ist György Ligeti, der
erstmals 1980 Bekanntschaft mit dessen Player Piano-Stücken machte.
Er schrieb damals spontan an einen Freund:
Im
vergangenen Sommer fand ich in einem Pariser Schallplattengeschäft zwei
Platten mit Musik von Conlon Nancarrow. Ich hörte die Musik an und war
sofort begeistert. Diese Musik ist die größte Entdeckung seit Webern und
Ives...
Seine Musik ist überaus originell,
lebendig, konstruktiv und
gleichzeitig emotional...
für mich ist es die beste Musik eines
lebenden Komponisten.
Einem anderen Freund berichtete er überschwänglich:
Ich
bestätige mit meiner ganzen ernsthaften Überzeugung, dass
Conlon Nancarrow der größte lebende Komponist ist. Wäre J.S.Bach
anstatt mit dem protestantischen Choral mit Blues, Boogie-Woogie und
lateinamerikanischer Musik aufgewachsen - er hätte wie Nancarrow
komponiert. Nancarrow, das ist die Synthese amerikanischer Tradition, der
Polyphonie Bachs und der Eleganz Strawinskys - mehr noch - er ist der
beste Komponist der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts.
Ligeti gibt freimütig zu, dass er bei der Komposition
seiner "Études pour Piano" in hohem Maße von Nancarrow beeinflusst
wurde. Während Nancarrow die temporale Vielschichtigkeit seiner Musik mit dem Player Piano verwirklicht, versucht
Ligeti, seine Vorstellungen von Polymetrik den Pianistenhänden
anzuvertrauen. Dabei geht er oft an die Grenzen des Möglichen - mitunter
überschreitet er diese Grenzen auch. So geriet seine vierzehnte Klavieretüde
unspielbar. Er widmete sie daraufhin dem Player Piano und schrieb für die
Pianisten eine zweite, erleichterte Fassung, allerdings nicht ohne zu
vermerken, dass auch die erste Fassung spielbar sei, "bei genügendem
Arbeitsaufwand".
Conlon und Yoko Nancarrow mit György Ligeti in der Kölner Philharmonie
1998.
Foto: Jürgen Hocker
Die Bewunderung Ligetis für seinen Komponistenkollegen
beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Nancarrow erzählte einmal:
Vor
ungefähr sechs Monaten bekam ich eine Nachricht aus Deutschland, man würde
mir drei Schallplatten mit Ligetis Musik zuschicken. Ich habe sie gerade
erhalten, und nach der Verpackung zu urteilen, müssen sie sechs Monate im
Laderaum eines Schiffes verbracht haben. Die Musik ist umwerfend. Natürlich
war ich zuvor geschmeichelt, dass
der berühmte Vordenker der europäischen Avantgarde all diese Dinge über
meine Musik gesagt hatte. Ich hatte wenig Kenntnis von seiner Musik, und
er hätte aus den verschiedensten Gründen berühmt sein können, so z.B.
weil er der erste gewesen sein könnte, der Rülpser und Pupser
synchronisiert hat. So ging ich mit einiger Skepsis zu einem Freund, um
mir die Musik anzuhören. Ich war regelrecht
überwältigt. Dies sind keine Clownerien à la Cage, sondern es
ist höchst originelle und eindrucksvolle Musik. Ich habe seit Bartók und
Strawinsky keine solche Begeisterung mehr gefühlt.
Neue
Kompositionen für menschliche Interpreten?
Als Nancarrow 1975 einmal gefragt wurde, ob er sich
vorstellen könne, wieder für menschliche Interpreten zu schreiben, wies
er diese Idee weit von sich.
Ich
würde nicht einmal im Traum daran denken. Ich bin vollständig auf das
Player Piano fixiert. Ich müsste wieder anfangen zu denken, kann die Hand
auch hierhin gelangen; kann sie dorthin gehen? Diese ganzen Beschränkungen.
Nein, nein, wenn ich für das Player Piano komponiere, schreibe ich nur
Musik; und die Noten stehen hier, dort oder wo auch immer. Ich brauche an
nichts anderes zu denken. Es ist ein ausgesprochener Luxus, über all dies
nicht nachdenken zu müssen.
Seine wirtschaftliche Situation zwang Nancarrow jedoch, in
den achtziger Jahren Kompostionsaufträge für menschliche
Interpreten anzunehmen. So schrieb er z.B. ein Stück für die berühmte
Tango-Kollektion des Pianisten Ivar Mikhashoff.
Conlon Nancarrow mit Ivar Mikhashoff während eines Konzertes in
Mexico-City 1990.
Foto: Jürgen Hocker
Diese
Idee eines Auftrages für live-Klavier gefällt mir gar nicht. Ich bin völlig
fixiert und süchtig nach Player Pianos. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie viel
Arbeit ich in diesen mehr oder weniger harmlosen "Tango?"
investieren musste. Immer musste ich darüber nachdenken, wo nun wohl die
Finger sein mögen, nicht zu reden von den Beschränkungen in bezug auf
die rhythmischen Schwierigkeiten. Selbst dieses recht simple Stück ist
mehr oder weniger an der Grenze der Möglichkeiten. Ivar Mikhashoff meint
jedoch, er könne es spielen.
Der Autor hat sich seit über einem Jahrzehnt um die
Verbreitung von Nancarrows Player Piano-Kompositionen bemüht und
zahlreiche Konzerte in Europa veranstaltet, u.a. in Berlin (im Rahmen der
Berliner Festwochen), München, Warschau, Macerata (Italien), Stockholm,
Brüssel, Frankfurt, Paris, Karlsruhe, Stuttgart, Bonn, Bremen, Straßburg,
Aarhus (Dänemark), Donaueschingen, Den Haag, Baden-Baden, und beim
Klavierfestival Ruhr. Nur wenige Wochen vor Nancarrows Tod wurde erstmals
Nancarrows Gesamtwerk für Player Piano in sieben Konzertveranstaltungen
im Rahmen der MusikTriennale Köln aufgeführt.
Trotz seiner weltweiten Anerkennung lebte Nancarrow auch in
den letzten Jahren völlig zurückgezogen mit seiner dritten Frau Yoko in
Mexico. Nach mehreren kleinen Schlaganfällen zu Beginn der neunziger
Jahre war er nicht mehr in der Lage zu komponieren, und sein Lebenswerk
durfte als be- und vollendet betrachtet werden. Nancarrow starb am 10.
August 1997 in seinem Heim in Mexico City. Seine „Studies for
Player Piano“ - von vielen als das "Wohltemperierte Klavier des 20.
Jahrhunderts" betrachtet - werden einen herausragenden
Platz in der Klaviermusik unseres Jahrhunderts einnehmen.
Jürgen Hocker©
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Fotomontage
von Liborius Born nach Fotos von Heinrich Mehring und Jürgen Hocker.
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