Aufgefundene Partituren. Mexico 1990.
Das
‘verschollene’ Septett.
Es war ein ganz
besonderes Privileg, dass ich für zwei Wochen in Nancarrows Studio
arbeiten durfte, das er üblicherweise nur ausgewählten Besuchern
zeigte, und das nicht einmal seine Frau Yoko zum Saubermachen betreten
durfte. Bei der Dokumentation vorhandener Notenrollen und Manuskripte
entdeckte ich plötzlich unter Bergen alter Zeitungen, Zeitschriften, Bücher,
Briefe, ausgedienter Kleidungsstücke und Schallplatten einige Notenblätter
mit einer Komposition für sieben Instrumente. Ich suchte weiter und
fand nach und nach über 40 Seiten dieser Komposition. Ich war sicher,
das verschollen geglaubte ‘Septett’ gefunden zu haben, und ich ging
voll freudiger Erwartung zu Nancarrow ins Wohnzimmer. Die nun folgende
Unterhaltung ist bezeichnend für Nancarrows Verhältnis zur
Vergangenheit: Vergangenes ist für ihn vorbei, er verschwendet keinen
Gedanken mehr daran, es wird aus seiner Erinnerung gestrichen. Seine häufigste
Antwort auf Fragen zur Vergangenheit ist deshalb auch: ‘Oh, it’s of
no importance. I don’t remember.’ (Oh, es ist unwichtig. Ich kann
mich nicht mehr daran erinnern.) Ich zeigte ihm also aufgeregt die
Partitur und meinte: ‘Ich glaube, ich habe Dein Septett gefunden.’
N., erstaunt lächelnd: ’Oh, das ist nicht möglich, ich habe es
weggeworfen.’ ‘Aber es ist Deine Handschrift.’ N., ein wenig
mitleidig: ‘Oh, meine Handschrift kenne ich.’ ‘Es ist doch für
sieben Instrumente’. N., mit leichtem Spott: ‘Oh, ich sehe das.’
‘Hast Du denn jemals eine andere Komposition für sieben Instrumente
geschrieben?’ N.; erstaunt: ‘ Nein, niemals.’ ‘Dann muss es doch
Dein Septett sein.’ N., ein wenig ärgerlich: ‘ Ich habe Dir doch
gesagt: Ich habe es weggeworfen!’ In der Zwischenzeit wurde das wieder
aufgefundene Septett mehrmals zur Zufriedenheit Nancarrows von mehreren
bedeutenden Ensembles aufgeführt.
Conlon Nancarrow und Jürgen Hocker nach einem Konzert in Mexico City.
Foto: Jörg Borchardt.
Konzert
in Mexico
Für Oktober
1990 hatte der mexikanische Komponist Julio Estrada in der Universität
von Mexico City eine Veranstaltungsreihe geplant, in deren Mittelpunkt
die Player Piano-Kompositionen Nancarrows stehen sollten. Mir war die
Aufgabe zugedacht, diese Konzerte zu moderieren. Die Konzerte waren
ausverkauft, und Nancarrow wurde in seiner Wahlheimat erstmals mit
minutenlangen ‘Standing Ovations’ gefeiert. Als ich ihn nach einem
der Konzerte hinaus begleitete, trat plötzlich ein älterer
freundlicher Herr auf ihn zu, der offensichtlich nicht wusste, wer ihm
gegenüber stand, und der mit dieser Art Musik wenig anzufangen wusste.
Er meinte mit skeptischer Miene: ‘Sie sind ja auch schon älter - mögen
Sie denn diese Musik?’ Nancarrow schaute den Besucher verwundert, ja
fast entgeistert an, brach dann aber in schallendes Gelächter aus und
meinte schließlich: ‘Oh ja, ich muss diese Musik mögen - ich bin ja
der Komponist.’ Der Schreck auf dem Gesicht des Gegenübers war nicht
zu übersehen, und er zog sich unter vielen gemurmelten Entschuldigungen
zurück.
Nancarrows
‘schmutzige’ Study
Anlässlich
der Nancarrow-Konzerte im Oktober 1990 in Mexico City fiel mir die
Aufgabe zu, diese Konzerte zu moderieren, einen nicht ganz leichte
Aufgabe, da die Moderation in Englisch sein sollte, und Englisch weder
meine Muttersprache war noch die der meisten Anwesenden. Ich kündigte
Nancarrows Study No. 31 an, die „Study number thirty one“.
Offensichtlich ließ die Aussprache meines „th“ zu wünschen übrig,
denn Nancarrow zeigte sich in der Pause verwundert darüber, dass er
eine „schmutzige“ Study (dirty one) geschrieben habe. Als ich - mit
etwas angekratztem Selbstbewusstsein - in der zweiten Konzerthälfte die
Studie No. 36 ankündigte, nahm das Unglück vollends seinen Lauf:
„Nancarrows thirty six“ geriet zu „Nancarrows dirty sex“, was
bei ihm einen spontanen Heiterkeitsausbruch hervorrief.
Der
überzählige Rhythmus
Anlässlich
der Kölner Konzertveranstaltung „Musik und Maschine - Nancarrow und
Ligeti in Köln“ im Oktober 1988 wurden in der Kölner Philharmonie
erstmals in Deutschland Nancarrows Studies for Player Piano auf einem
‘echten’ Player Piano gespielt. Ich hatte dazu meinen Ampico Bösendorfer
Selbstspielflügel in die Philharmonie geschafft und war sehr gespannt
auf Nancarrows Urteil über dieses Instrument. Als ich während der
Proben die erste Notenrolle einlegte und den Motor einschaltete, spielte
das Instrument zur vollen Zufriedenheit. Plötzlich - in der Mitte der
Komposition - begann das Gebläse ungleichmäßig zu laufen, was sich in
gleichmäßigen Schlaggeräuschen äußerte. Ich glaubte im Boden
versinken zu müssen und wartete am Ende des Stückes auf das
vernichtende Urteil des Meisters. Nancarrow lächelte mich freundlich an
und meinte: „Oh, da war ein Rhythmus - ich kann mich gar nicht
erinnern, ihn komponiert zu haben.“ Der Fehler ließ sich schnell
beheben, so dass das Instrument während des Konzertes einwandfrei
spielte.
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