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        My
        Soul is in the Machine
        
         
        
         
        
        Conlon
        Nancarrows Kompositionstechnik -
         
        
        die
        Entstehung einer Study for Player Piano
        
         
        
         Jürgen
        Hocker©[1]
        
        
        
         
          
        
          
        
        Nancarrow, Study No. 49c. Ende des Lochstreifens 
          
        Als Nancarrow in den vierziger
        Jahren mit der Erforschung und musikalischen Umsetzung neuer Tempo- und
        Geschwindigkeitsrelationen begann, gab es keine Interpreten, die in der
        Lage gewesen wären, seine metrisch komplexen Kompositionen zu spielen.
        Und der Musikcomputer befand sich noch in weiter Ferne. So wählte er
        zur Realisierung seiner musikalischen Vorstellungen - angeregt durch
        Henry Cowells Buch 'New Musical Resources' - das Player Piano. Der
        Aufwand war enorm: Fast ein Jahr Arbeit benötigte er, um wenige Minuten
        Musik in einen Lochstreifen zu stanzen. Dazu das Fehlen jeglicher
        Motivation von außen, jeglicher öffentlicher Anerkennung. Dennoch
        schuf Nancarrow in selbstgewählter Isolation in Mexico mit
        unnachgiebiger Konsequenz ein grandioses Werk für ein Instrument, das
        es eigentlich außerhalb der Museen gar nicht mehr gibt. In der ihm
        eigenen Bescheidenheit sagte er einmal: „Ich
        habe mich in eine kleine musikalische Nische zurückgezogen, aber ich
        glaube, ich habe sie gut erforscht“. 
        Die Stanzmaschine
        
         
        Zwischen 1940 und 1981 verließ
        Nancarrow sein Exil in Mexico nur ein einziges mal: 1947 reiste er mit
        Annette Margolis nach New York, um eine Stanzmaschine zu erwerben. Dies
        war jedoch schwieriger als ursprünglich vermutet.
         
         
        
        Notenrollen, die zum Steuern der
        Player Pianos dienten, wurden von großen Firmen zu Beginn unseres
        Jahrhunderts in unüberschaubarer Zahl angeboten. Zu ihrer Herstellung
        dienten vollautomatische Kopiermaschinen, die in einem Durchgang bis zu
        20 Exemplare stanzen konnten. Die meisten dieser Maschinen wurden mit
        dem Niedergang der Musikwerke-Industrie um 1930 verschrottet. Neben
        diesen großen Maschinen benutzte man zur Herstellung und zum Editieren
        der 'Mutterrollen' auch kleine Handstanzmaschinen.
         
        
          
        
        Nach dieser alten Leabarjan Handstanzmaschine ließ sich Nancarrow 
        
        eine moderne Stanzmaschine konstruieren. Foto: J. Hocker 
        Nach langer Suche stieß Nancarrow
        in New York auf die noch heute existierende Notenrollenfabrik Q.R.S.,
        und er trug dem dort angestellten Notenrollen-Arrangeur J. Lawrence
        Cook sein Anliegen vor. (Cook, der 1976 im Alter von 77 Jahren starb,
        war nach dem Niedergang der Player Piano-Industrie einer der wenigen,
        mit Sicherheit jedoch einer der fruchtbarsten Notenrollen-Arrangeure. Er
        galt als 'The first name in Piano rolls' und er schuf fast 20.000
        Arrangements, die z.T. unter Pseudonymen veröffentlicht wurden.) Cook
        war offensichtlich der erste, der Nancarrows Problem sofort verstand. Er
        besaß eine Handstanzmaschine, die genau Nancarrows Vorstellungen
        entsprach, einen 'Leabarjan Music Roll Perforator', der von der
        Leabarjan Manufacturing Co. in Hamilton, Ohio, gefertigt wurde. Solche
        Stanzmaschinen wurden im ersten Viertel unseres Jahrhunderts an viele
        Privatleute und an Musikschulen geliefert, die eigene Rollen stanzen
        oder kopieren wollten. Diese Maschinen waren zum Stanzen
        'konventioneller' Musik konstruiert und konnten deshalb nur ganze
        Vielfache einer kleinsten Einheit (z.B. 32stel) stanzen.
        
         
        
          
                                        Nancarrows nachkonstruierte Stanzmaschine (Detail). Foto: J. Hocker 
        Da Cooks Stanze unverkäuflich war,
        bat Nancarrow um Erlaubnis, sie kopieren zu dürfen. Er fand schließlich
        einen Mechaniker, der ihm in vielwöchiger Arbeit diese Stanze
        nachbaute. Während seines mehr als dreimonatigen Aufenthaltes in New
        York heiratete  Nancarrow die Malerin Annette Margolis, und er machte 
        die Bekanntschaft des damals noch unbekannten Komponisten John
        Cage.
        
         
        Die Notenrolle
        
         
        Die Notenrolle (der immer wieder
        verwendete Begriff 'Walze' ist falsch, da er für einen anderen
        Steuerungsmechanismus steht!) wird zum Steuern pneumatischer
        Musikautomaten - insbesondere von pneumatischen Klavieren - benutzt. Das
        von Nancarrow verwendete Ampico-System der American Piano Company
        benutzt Notenrollen mit einer Standardbreit von 28,6 cm. Sie bestehen
        aus besonders widerstandsfähigem Papier und sind in 96 (gedachte)
        Spuren eingeteilt. 83 Spuren steuern die Klaviertöne vom Subkontra-H
        bis a’’’’. Beim Ampico-System sind die beiden untersten und die
        drei obersten Töne der normalen Klaviatur pneumatisch nicht spielbar.
        Je sechs Spuren an beiden Rändern der Notenrolle steuern die Dynamik
        der beiden Klaviaturhälften und die Pedale; eine Spur ist für den
        automatischen Rücklauf der Rolle am Ende der Komposition vorgesehen.
        (Zur genauen Spurbelegung und Funktionsweise vgl. Lit.1.)
        
         
             
        
        Kommerzielle Ampico-Notenrollen 
           
        
          
        
        Ampico-Notenrolle. Beginn der 2. Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt. 
        Der Lochstreifen wird von einem
        'Gleitblock' pneumatisch gelesen. Erscheint ein Loch oder eine
        Lochreihe, so geht die entsprechende Taste nach unten. Wird das Loch
        oder die Lochreihe wieder geschlossen, so geht die Taste wieder nach
        oben. Ein einzelnes Loch erzeugt einen Stakkato-Ton, eine Lochreihe
        einen länger angehaltenen Ton. Eine Notenrolle kann maximal 15 Minuten
        Musik aufnehmen.
        
         
        Die Studies for Player Piano No. 1
        bis 20
        
        
        
         
        Trotz zunehmender metrischer und
        rhythmischer Komplexität lassen sich Nancarrows Studies for Player Piano No. 1 bis 20  noch in konventioneller Weise
        notieren: „Die ersten zwanzig
        Studies schrieb ich noch in Standard-Notenschrift.“  Er stanzte
        die Musik nach den Partituren, ohne zuvor Skalen auf den
        Papierstreifen zu notieren. Alle Variablen wie Tonhöhe, Tonlänge oder
        Abstand der Töne können direkt an zwei Skalen der Stanzmaschine
        eingestellt bzw. abgelesen werden. Die Originalrollen von Nancarrows
        frühen Kompositionen für Player Piano weisen deshalb auch keinerlei
        'Zeichnungen' auf. Da mit jeder Hebelbewegung der Stanze nur ein Loch
        gestanzt werden konnte und der ursprünglich vorhandene automatische
        Vorschub zum Stanzen von Lochreihen für längere Töne offensichtlich
        unbefriedigend arbeitete, verwendete Nancarrow in seinen ersten 19
        Studies viele Stakkato-Töne: „...
        bis dahin gab es nur wenige Stücke
        mit ausgehaltenen Noten, weil das Stanzen von Lochreihen sehr viel
        Aufwand bedeutete. Alles war Stakkato! Mit dem Mechanismus mit festem
        Vorschub war das komplizierteste Tempoverhältnis, das ich je benutzte,
        wahrscheinlich 4 gegen 5.“ 
        
         
        Die Studies for Player Piano No. 21 bis 50
        
         
        
        
          
        Conlon 
        Nancarrow,Study No. 49c. Auszug aus der Notenrolle.  
        Die zunehmende Komplexität der
        musikalischen Zeitabläufe erforderte eine immer präzisere Stanzung,
        die mit Nancarrows erster Stanzmaschine, die über einen festen Vorschub
        verfügte, nicht ausgeführt werden konnte. Er ließ deshalb seine
        Stanzmaschine umbauen, wobei zum einen der Mechanismus für den festen
        Vorschub entfernt wurde, so dass der Stanzschlitten an jede gewünschte
        Stelle des Papierstreifens bewegt werden konnte. Zum anderen wurde das
        'einfache' Stanzwerkzeug durch ein vierfaches Werkzeug ausgetauscht, so dass
        nun wahlweise bis zu vier Löcher gleichzeitig gestanzt werden konnten,
        was das Stanzen von Lochreihen für längere Töne erheblich
        erleichterte: „Es eröffnete
        sich mir ein Universum an neuen Möglichkeiten.“  Die komplexen Zeitabläufe, die sich nun nicht mehr in
        konventionelle Taktsysteme pressen ließen, erforderten auch eine
        Änderung des kompositorischen 'Arbeitsablaufes', der nun in vier Phasen
        stattfand. 
        Bevor Nancarrow jedoch mit der
        eigentlichen Arbeit begann, hatte er bereits eine klare Vorstellung
        über die Gesamtkomposition, insbesondere über die Zeit- und
        Tempoverhältnisse: „Natürlich
        habe ich mehr oder weniger eine Idee vom dem, was ich vorhabe, und auch
        von dem ganzen Stück, bevor ich anfange: einen allgemeinen Plan.“ 
        
        
        
         
        a.) Festlegung der Zeitverhältnisse
        auf der Notenrolle
        
        
        
         
                                                              
        
          
        Nancarrow legt eine
        leere Notenrolle auf seinem ca. 4 Meter langen Zeichentisch aus. Am
        vorderen und hinteren Ende dieses Tisches befindet sich je ein
        Mechanismus zum Auf- und Abwickeln der Notenrolle. In dem Regal im
        Hintergrund befinden sich leere Notenrollenspulen, Noten, 'Punching
        Scores' sowie Notenrollen mit 'klassischer' Musik (unten). Rechts an der
        Wand hängen verschiedene Geschwindigkeits- und
        Umrechnungstabellen.                    Foto: Jörg Borchardt
         
        
                                                                                                 
        Eine der wichtigsten
        Einrichtungsgegenstände in Nancarrows Studio in Mexico war ein ca. 4
        Meter langer Zeichentisch, an dessen vorderem und hinterem Ende sich
        jeweils ein Mechanismus zum Ab- und Aufspulen einer Notenrolle befand.
        Der erste Arbeitsabschnitt bestand nun darin, die Zeitverhältnisse der
        Komposition möglichst exakt auf eine leere Notenrolle zu übertragen.
        Als Hilfsmittel dazu dienten ihm schmale Pappstreifen von etwa 4 cm
        Breite und 50 cm Länge, auf denen er Takt- und Zeitskalen gezeichnet
        hatte.   
        
          
        
        Neben dem
        Zeichentisch befindet sich ein Schränkchen mit vielen Schubladen und
        Hunderten von Fächern, in denen Nancarrow seine Zeitschablonen
        aufbewahrt. Vor Beginn der Arbeit an einer neuen 'Study' wählt er die
        entsprechenden Schablonen, die er  zuvor angefertigt hat.                
                                                                                                                                           Foto: Jörg Borchardt
         
          
        In
        den Schubladen befinden sich Hunderte verschiedener
        Temposchablonen, wie z.B. 1% accel., 1,5% accel., 2% accel.,
        2,3% accel., prog. accel. 5% -
        
         50%, regr. accel. 50% - 5%, prog. rit. 5% 
         50%, regr. rit. 50% 
        
         5% . 
        
          
          
        Nancarrow entnimmt eine Temposkala. Foto: Jörg Borchard 
        
                                                                               
        
        Detailansicht einer
        Schublade des Skalenschrankes mit den Zeitschablonen. Die von Nancarrow
        gewählten Geschwindigkeitsverhältnisse finden oft eine Entsprechung in
        den Schwingunungsverhältnissen der Tonleiter. So entspricht z.B. das
        Schwingungsverhältnis von c4:ais4 einem Wert von 4:7, von c3:b3 einem
        Wert von 8:15 und von c1 zu a1 einem Wert von 3:5. Je nach Schwingungsverhältnis von zwei oder
        mehreren Tönen unterscheidet das Ohr zwischen konsonanten oder
        dissonanten Klängen. Nancarrow überträgt die Schwingungsverhältnisse
        von Tönen, die physikalisch gesehen Geschwindigkeitsverhältnisse
        darstellen, auf die Geschwindigkeiten einzelner Stimmen, und er
        unterscheidet zwischen temporalen Konsonanzen (z.B. 1:2, Oktave; 2:3,
        Quinte) und temporalen Dissonanzen (z.B. 5:7, Tritonus; 8:15, große
        Septime).
        Fotos: Jürgen Hocker.
         
        
         
        
        
                         
          
        
        Nancarrow übertrug nun die Tempoverhältnisse der
        geplanten Komposition auf die Notenrolle, wobei jeder Stimme eine eigene
        Temposkala zugeordnet wurde. So zeigt die Notenrolle der 12-stimmigen Study
        No. 37 nicht weniger als 12 getrennte Temposkalen, die mit hoher 
        Präzision gezeichnet wurden. Diese Skalen wurden für die gesamte 
        Komposition übertragen 
           
        Nancarrows Zeichentisch. Die 
        Aufspulmechanismen an beiden Seiten stammen von alten Player Pianos. Zum 
        Planhalten der Notenrolle benutzt Nancarrow zwei schwere Messinglineale. 
        Hinter dem Zeichentisch befindet sich eine Vielzahl an Noten, Skalen und 
        Tabellen. Da in Mexico die meisten Häuser ohne Kamin gebaut werden und 
        somit über keine Heizungsanlage verfügen, diente ein Heizlüfter zur 
        Erwärmung des oft kühlen, fensterlosen Studios.            
                                                                                                                                    Foto: Jürgen Hocker 
         Dabei kann die Länge der Notenrolle - je nach
        Umfang der Komposition - bis zu 30 Meter betragen. Dies entspricht einer
        Spieldauer von ca. 12 Minuten. Bereits dieser erste Schritt ist sehr
        zeitaufwendig: Das Berechnen der Geschwindigkeitsskalen, das Zeichnen
        der Schablonen und das Übertragen auf die Notenrolle konnte bei
        komplexen Kompositionen einige Monate in Anspruch nehmen. 
         
        
                 
          
        Die Übertragung der
        Zeitschablonen auf die Notenrolle erfolgt mit hoher Präzision. 
         
            Für
        sehr feine Skalen benutzt Nancarrow sogar eine Lupe.           
        Foto: Jörg Borchardt 
                                                                     
        
        
                                        
          
        Um den Arbeitsablauf zu 
        erleichtern hat Nancarrow einen Barhocker umgebaut und mit Rädern sowie 
        einer Führungsschiene versehen, so dass er an seinem Zeichentisch 
        entlang fahren kann.              
        
        
                                                                Foto: Jürgen Hocker
             
                                                                                                              
         
          
        b.) Tempoorganisation in der
        Partitur
        
        
        
         
        Im zweiten Schritt übertrug
        Nancarrow die Zeitskalen für die gesamte Komposition auf
        konventionelles Notenpapier, wobei allerdings nicht die gleiche
        Präzision wie beim Zeichnen der Notenrolle erforderlich war: „Es
        ist nicht so exakt wie die Rolle, aber es ist doch ziemlich akkurat.“
        
        
        
         
        c.) Die eigentliche Komposition
        
        
        
         
        Als nächstes folgen die
        Organisation von Tonhöhen und Tonlängen - die Anordnung der Töne im
        Zeitraster - und somit der eigentliche kompositorische Prozess: „Wenn ich arbeite, entstehen alle Faktoren wie Melodie, Harmonie und
        Rhythmus gemeinsam.“  Hierfür entwickelte Nancarrow ein Art
        musikalischer Kurzschrift, die nur er vollständig entziffern konnte,
        und die ihm als Vorlage für das Stanzen diente. Er bezeichnete diese
        Manuskripte als 'Punching Scores' (Stanzpartituren).
         
                                                                                    
        
          
        
        Seite einer Punching
        Score der Study No. 40. Diese Punching-Scores enthalten alle Informationen, die Nancarrow
        zum Stanzen einer Notenrolle benötigt.  
        Diese Punching
        Scores enthalten neben den Temposkalen oft Hinweise auf den Ursprung der
        gewählten Tempoverhältnisse. So erscheinen die
        Geschwindigkeitsverhältnisse 3:4:5:7 der vierstimmigen Study No. 45b  auf den ersten Blick als zufällige Zahlenspielerei.
        Nancarrow sieht in diesen Geschwindigkeiten jedoch die
        Schwingungsverhältnisse der Töne eines Dominantseptim-Akkords. 
         
        
        
          
        Erste Seite der 'Punching
        Scores' (Stanzpartitur) von Nancarrows  Study for Player Piano No. 45b. Auch hier wird der F-Dur
        Dominatseptimakkord als 'Ursprung' der Geschwindigkeitsverhältnisse der
        vier Stimmen angegeben. Die Temposkalen sind weniger präzise als auf
        der Notenrolle notiert, da sie nur zur Orientierung dienen.
        Stakkato-Noten werden grundsätzlich als Achtel notiert. Üblicherweise
        erscheint hierfür auf der Notenrolle nur ein Loch. Spielt das Player
        Piano jedoch Pianissimo, so stanzt Nancarrow zwei Löcher (
        
        
         Tonverlängerung), um einen
        sicheren Anschlag zu gewährleisten. Längere Töne werden als Viertel
        notiert und die Tonlänge wird durch einen waagrechten Strich hinter dem
        Notenkopf angezeigt. 
        
        
        
         
                                                                                      
        
          
         
        Beginn der Notenrolle von Nancarrows  Study for Player Piano No. 45b. 
        Zur besseren Orientierung wurde vom
        Autor am linken Rand eine Tonskala hinzugefügt. Beachte: Der Bass befindet sich auf der Notenrolle oben, der Diskant unten! Die
        Tonbezeichnungen G3, C4, E4 und Bb5 (dies entspricht einem
        Dominantseptimakkord in F-Dur) stehen für die Geschwindigkeitsverhältnisse
        der vier Stimmen von 3:4:5:7 (vgl. Text und Legende zu Abb.5). Die
        ersten Lochungen an beiden Rändern der Notenrolle (Cancel-Befehle)
        setzen die Lautstärke beider Klaviaturhälften auf Pianissimo. Bei
        dieser späten vierstimmigen Komposition mit ihren einfachen
        Geschwindigkeitsverhältnissen benutzt Nancarrow wieder das Taktsystem.
        Die durchgezogenen senkrechten Linien bezeichnen das Zeilenende in den 'Punching
        Scores'.
        
        
        
         
         Sowohl
        vor den gezeichneten Skalen in der Notenrolle als auch vor den Systemen
        der Punching Scores sind die Noten G3, C4, E4 und Bb5 vermerkt. Das
        Schwingungsverhältnis der Quarte G3:C4 beträgt 3:4, das der großen
        Terz C4:E4 beträgt 4:5 und das des Tritonus E4:Bb5 liegt bei 5:7. Somit
        entsprechen die Geschwindigkeiten 3:4:5:7 der vier Stimmen in Study
        No. 45b  den Schwingungsverhältnissen (Frequenzverhältnissen)
        eines Dominantseptimakkordes in F-Dur (vgl. Abbildung. In der Notenrolle
        befindet sich der Bass oben und der Diskant unten). Nancarrow hat
        hierfür die Begriffe 'Temporale Konsonanz' und 'Temporale Dissonanz'
        geprägt. Temporale Konsonanzen sind z.B. die
        Geschwindigkeitsverhältnisse 1:1 (entsprechend den
        Schwingungsverhältnissen der Prim), 1:2 (Oktave) oder 2:3 (Quinte).
        Ausgeprägte temporale Dissonanzen sind die
        Geschwindigkeitsverhältnisse mit irrationalen Zahlen wie e zu pi oder
        Wurzel 2 zu 2. Die oft in Notenrollen oder Punching Scores auftauchenden
        Tonbezeichnungen weisen selten auf eine Tonhöhe hin, sondern sie haben
        meist die Bedeutung einer Geschwindigkeit (vgl. Abb. 12, Auszug aus der
        Notenrolle der Study No. 25). 
                                                                                   
        
          
        Ausschnitt aus der
        Notenrolle von Nancarrows hochkomplexer  Study
        for Player Piano No. 25. Bei den Lochstreifen befinden sich die
        tiefen Töne im oberen und die hohen Töne im unteren Teil des
        Streifens. Die Skalen sind aus stanztechnischen Gründen
        gegenüber den Lochungen um einen konstanten Betrag nach links
        verschoben. Bei den rautenförmigen Gebilden am Anfang und Ende dieses
        Ausschnitts handelt es sich keineswegs um unsauber gestanzte graphische
        Muster, sondern um akkurat gestanzte Tonfolgen (vgl. die entsprechenden
        Skalen mit feinster Teilung). Die Arpeggien rechts neben der Raute
        stellen Ausschnitte aus Obertonreihen dar (von oben nach unten: Oktave,
        Quinte, Quarte, große Terz, kleine Terz u.s.w.). Die Tonhöheangaben
        auf der vierten Skala von oben sind ein Maß für die Abfolge der
        musikalischen Ereignisse. Der auf einen Tonnamen folgende Abstand ist
        proportional der Wellenlänge des entsprechenden Tons. 
         
                   
                     
      
        
        Auszug aus der Reinschrift der Partitur der Study No. 25. Dieser 
        Ausschnitt entspricht in großen Teilen dem oben abgebildeten 
        Lochstreifen. 
        
          
         Für die Tonlängen hat Nancarrow in
        seinen Punching-Scores eine spezielle Notationsweise entwickelt.
        Stakkato-Noten werden als Achtel notiert. Dies entspricht meist einem
        Loch in der Notenrolle. Spielt das pneumatische Klavier allerdings im
        Piano oder Pianissimo, so stanzt Nancarrow oft zwei dicht hintereinander
        liegende Löcher, um bei dem geringen Vakuum einen sicheren Anschlag zu
        erzielen. Längere Töne notiert er als Viertel, wobei er die Tonlänge
        durch einen waagrechten Strich hinter dem Notenkopf markiert. Sehr
        schnelle Tonfolgen werden als Achtel auf einem Hilfssystem notiert und
        mit einer Klammer exakt in die Temposkala 'eingepasst'. Die Dynamik wird
        in unterschiedlicher Weise angezeigt: Entweder mit den konventionellen
        Bezeichnungen wie p, mp, f, u.s.w., oder durch Angabe der notwendigen
        Dynamiklochungen auf der Notenrolle. Obwohl das pneumatische System eine
        stufenlose Dynamik erlaubt, benutzt Nancarrow aus ästhetischen Gründen
        ausschließlich Terrassendynamik. Die folgenden acht  
        Befehle finden Verwendung, die durch 
        kurze Lochungen auf den entsprechenden Spuren geschaltet werden: 
        
          - Intensität 1:  Spur 7         
          pp (cancel)
 
          - Intensität 2:  Spur 2         
          p
 
          - Intensität 3:  Spur 4         
          mp
 
          - Intensität 4:  Spur 6         
          mf
 
          - Intensität 4a: Spur 2 + 4 mf 
          (Intensität 4 und 4a ergeben etwa gleiche Lautstärke)
 
          - Intensität 5:  Spur 2 + 6  f
 
          - Intensität 6:  Spur 4 + 6  ff
 
          - Intensität 7:  Spur 2 + 4 + 6 fff 
 
       
      Vor einem neuen 
      Lautstärke-Befehl sollte jeweils der "Intensität aus"-Befehl (cancel) 
      gelocht sein, um ein sicheres Umschalten zu gewährleisten. Rechtes und 
      linkes Pedal werden durch Lochreihen gesteuert, d.h. die Lochungen werden 
      über die gesamte Betätigungszeit der Pedale weitergeführt. Der 
      Rückspulbefehl (Spur 8, Diskantseite) erscheint nur einmal am Ende der 
      Rolle und leitet das selbsttätige Zurückspulen der Notenrolle ein. Nach 
      Beendigung des Rückspulvorgangs wird das Instrument ausgeschaltet. Analog 
      allen Informationsspuren verlaufen auch die 83 Tonspuren parallel vom 
      Rollenanfang bis zum Rollenende. Deckt sich ein Loch einer Tonspur mit 
      einer entsprechenden Öffnung des Gleitblocks, so wird - über einen kleinen 
      Tonbalg - ein Klavierhammer an die Saite bewegt: der Ton erklingt mit der 
      über die Intensität gesteuerten Lautstärke. Gleichzeitig hebt der Dämpfer 
      ab.   
      
        Zu detaillierten Informationen
        bzgl. Technik und Dynamiksteuerung des von Nancarrow benutzten
        Ampico-Systems vgl. Lit.1.
        
         
        Die von Peter Garland in Soundings
        publizierten und inzwischen von Schott, Mainz, vertriebenen
        'Reinschriften' der Studies for Player Piano sind oft erst viele Jahre nach den
        Kompositionen entstanden. Nancarrow verzichtete in diesen Partituren,
        die vorwiegend Studienzwecken dienen sollen, auf die Wiedergabe der
        Temposkalen. Dennoch vermitteln die Notenabstände ein gutes Bild des
        zeitlichen Ablaufs. Zum Reproduzieren einer Notenrolle sind sie jedoch -
        wegen der fehlenden Skalen - ungeeignet. 
        
        
        
         
        d.) Der Stanzvorgang
        
         
        Nachdem die gesamte Komposition in
        den ‘Punching Scores’ fixiert ist, beginnt die aufwendige Arbeit des
        Stanzens, die wiederum einige Monate in Anspruch nehmen konnte.
                                               
          
        
        
        
        
        
      
      
          
        Nancarrow an seiner
        Stanzmaschine, die sich in einem Vorraum zu seinem Studio befand. Als
        Vorlage zum Stanzen dienten ihm die 'Punching Scores', die er auf dem
        Notenständer im Hintergrund ablegte. Das Stanzen einer Notenrolle
        konnte mehrere Monate in Anspruch nehmen.
                                                                                                                                 
        Foto: Jörg Borchardt
         
         
        Nach dem
        Einspannen der Notenrolle in die Stanzmaschine wurde das Papier mit zwei
        exzentrischen Wellen fixiert. Der Stanzschlitten lässt sich nun über
        eine Papierlänge von ca. 40 cm stufenlos bewegen. Die Tonhöhe wird mit
        Hilfe einer Skala und einer Zahnstange eingestellt, die oberhalb der
        Stanzfläche angeordnet sind. Um Tonanfang und Tonende exakt stanzen zu
        können, hat Nancarrow vor dem eigentlichen Stanzwerkzeug einen feinen
        Draht quer über das Papier gespannt, den er auf die richtige Position
        der auf die Notenrolle gezeichneten Skalen einstellt. Durch Einstellung
        des Stanzwerkzeugs kann er nun wahlweise ein bis vier Löcher
        gleichzeitig stanzen. Da der Draht, der Nancarrow zur Einstellung dient,
        19,5 mm vor dem Stanzwerkzeug angeordnet ist, sind alle Lochungen auf
        den Notenrollen um 19,5 mm gegenüber den Skalen verschoben. Hierdurch
        wird zwar das 'Lesen' der Notenrolle erschwert - auf die Präzision der
        Lochanordnungen hat dies jedoch keinen Einfluss. 
        
         
                                                                                     
          
                                                Nancarrows
        Stanzmaschine, Gesamtansicht.  Foto: Jürgen Hocker 
                                    
               
        
        Nancarrows Stanzmaschine, Detail.  Foto: Jürgen Hocker 
        
                    
          
        Stanzmaschine,
        Detailansichten. Die Tonhöhe wird über eine (auf dem Foto kaum
        sichtbare) Zahnstange am unteren Ende der Tonskala eingestellt. Das
        Stanzwerkzeug (Mitte) ist z.Zt. der Aufnahme mit drei von vier
        möglichen Stanzen bestückt, so dass bei einem Stanzvorgang drei
        (hintereinander liegende) Löcher gestanzt werden können. Im
        Vordergrund ist ein feiner Draht quer über das zu stanzende Papier
        gespannt. Mit Hilfe dieses Drahtes wird der bewegliche Stanzschlitten an
        den Skalen der Notenrolle ausgerichtet, so dass eine präzise
        Positionierung des Stanzwerkzeugs möglich ist. Da der Abstand des
        Drahtes zum Stanzwerkzeug 19,5 mm beträgt, sind alle Lochungen auf der
        Notenrolle um diesen Betrag gegenüber den Zeitskalen versetzt.   
        
        Foto: Jürgen Hocker 
        Nachdem das fixierte Papiersegment
        vollständig bearbeitet ist, werden die exzentrischen Rollen gelöst und
        das Papier wird um ca. 40cm nach vorne gezogen, so dass nun das zweite
        Segment gestanzt werden kann. Auf diese Weise wird die gesamte
        Notenrolle stufenweise bearbeitet. Wurde einmal versehentlich ein
        falsches Loch gestanzt, so konnte es mit einem transparenten
        Klebestreifen wieder verschlossen werden. Dies ist möglich, weil die
        Lochstreifen in den Player Pianos nicht optisch, sondern pneumatisch
        (d.h. durch einen Luftstrom) gelesen werden.
        
        
        
         
        Nancarrow erwähnte des öfteren, dass
        er jederzeit während des Schaffensprozesses eine genaue Vorstellung vom
        Ablauf seiner Komposition gehabt habe. Deshalb nahm er bei seinen
        frühen Werken die Notenrolle erst aus der Stanzmaschine, nachdem sie
        vollständig gestanzt war.
        „Es ist tatsächlich so: Nachdem ich das Stanzen einer Rolle beendet
        habe und bevor ich sie in das Klavier lege - Du kannst Dir nicht
        vorstellen, wie aufgeregt ich bin. 
        Wie
        wird 
        es klingen? Wenn ich sie das
        erste mal höre, dann weiß ich, wie gut ich meine Vorstellungen
        verwirklichen konnte. Natürlich, je besser es meine Vorstellungen
        trifft, um so besser fühle ich mich.“
        
         
        
        
        
        Bildergalerie der Study for Player Piano No. 36. 
        Es handelt sich um einen streng vierstimmigen Kanon, bei dem die Stimmen 
        in den Geschwindigkeitsverhältnissen 17/18/19/20 geführt werden. Die 
        einzelnen Stimmen wurden vom Autor in der Notenrolle koloriert, damit 
        man sie besser verfolgen kann.             
        
                                     
           Beginn der  Study No. 36 von Conlon 
        Nancarrow 
        
        
        Auszüge aus der  Study No. 36 von Conlon 
        Nancarrow 
        Mit seiner Study No. 27 erlebte
        Nancarrow jedoch eine herbe Enttäuschung: Als er sie nach vielmonatiger
        Arbeit erstmals hörte, musste er feststellen, dass er sich bei der
        Berechnung seiner Temposkalen verkalkuliert hatte. Obwohl Nancarrow bei
        seinem Player Piano die höchstmögliche Geschwindigkeit einstellte,
        lief die Notenrolle zu langsam. So blieb ihm nichts anderes übrig, als
        die gesamte Prozedur, beginnend mit dem Zeichnen 'schnellerer'
        Schablonen, nochmals durchzuführen, ein Aufwand, der sich - wie er
        meinte - in jedem Fall gelohnt habe. Seitdem entnahm Nancarrow in
        regelmäßigen Abständen die Notenrolle der Stanzmaschine und
        überprüfte das bisherige Ergebnis. 
        
        
        
         
         
        Nancarrow hat viele Möglichkeiten
        heutiger Computermusik um Jahrzehnte vorweggenommen. Sein
        Schaffensprozess  erforderte  jedoch einen extremen Zeitaufwand: An seinen umfangreicheren Werken
        arbeitete er etwa ein Jahr. Diese intensive Auseinandersetzung mit
        seiner Arbeit findet ihren Niederschlag in der Klarheit, Ehrlichkeit,
        Ernsthaftigkeit und Tiefe seiner Kompositionen.    
        Literatur:
         
        1. Jürgen Hocker,
        Begegnungen mit Conlon Nancarrow, Biographie 
        1a. Jürgen Hocker, Die
        Zeit als dritte Dimension, MusikTexte 31, 50-56, 1989.
        
         
        2. Jürgen Hocker, Ohne
        Grenzen - Musik für Player Piano, In: Neue Zeitschrift für Musik
        2, März / April 1995, 20-29.
        
         
        3. Jürgen Hocker, Auf
        der Suche nach der Präzision - Conlon Nancarrow und die Renaissance des
        Selbstspielklaviers, In: Neue Zeitschrift für Musik 9, Sept. 1986,
        22-32.
        
         
        4. Herbert Henck, Monika Fürst-Heidtmann, Neues
        von Nancarrow, In: Neuland - Ansätze zur Musik der Gegenwart, Bd.
        2, 1981/82, 216/217; Bd. 3, 1982/83; 247-251; Bd. 5, 1984/85, 297-301.
        
         
        5. Monika Fürst-Heidtmann, Conlon Nancarrow und die Emanzipation des Tempos, In: Neue
        Zeitschrift für Musik 7/8, Juli/August 1989, 32-38.
        
         
        6. Kyle Gann, The
        Music of Conlon Nancarrow. Music of the Twentieth Century (Hrsg.
        Arnold Whittall), Cambridge University Press 1995.
        
         
        
        
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