Das
Selbstspielklavier (Player Piano)
Ampico-Bösendorfer Selbstspielflügel
Entwicklung und Konstruktionsmerkmale
Das
Reproduktionsklavier
Das
Notenrollenrepertoire
Das Aufnahmeverfahren
Fragen der Authentizität
Entwicklung und Konstruktionsmerkmale
Der
Wunsch, Instrumente selbstspielend zu gestalten, um - unabhängig von den
eigenen musikalischen Fähigkeiten - Musik erleben zu können, ist nahezu
so alt wie die Instrumente selbst. So konstruierte bereits Samuel
Bidermann in Augsburg um 1600 selbstspielende (mechanische)
Musikinstrumente. Ein erhaltenes und funktionsfähiges selbstspielendes
und von Hand spielbares Spinett befindet sich in der
Musikinstrumentenabteilung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg.
Die frühen selbstspielenden Musikinstrumente wurden - wie die bekannten
Schweizer Spieldosen - fast ausschließlich über Stiftwalzen gesteuert.
Die
Herstellung dieser Stiftwalzen mit nur wenigen kurzen Musikstücken war
jedoch sehr aufwendig: Tausende von Metallstiften mussten auf den
Bruchteil eines Millimeters genau eingeschlagen werden. Die Stifte betätigten
über entsprechende Hebel die Klavierhämmer. Der so erzielbare ‘musikalische Genuss’
hielt sich jedoch in Grenzen, da alle Töne rein mechanisch mit
gleicher Lautstärke angeschlagen wurden.
Der
eigentliche Durchbruch gelang erst mit der Einführung des pneumatisch
ausgelösten Tonanschlages, der in Frankreich von Thibouville-Lamy, in
Deutschland von Frati, Cocchi und Peterson und in Amerika von der
Aeolian-Company eingeführt wurde. Hierbei wird jedem Klavierton ein
kleiner Blasebalg zugeordnet. Soll nun ein bestimmter Ton angeschlagen
werden, so wird ein Ventil geöffnet und der Blasebalg wird leergesaugt.
Die Bewegung beim Zuklappen des Balges wird entweder direkt auf die
Klaviermechanik (Klavier mit eingebautem Selbstspielapparat) oder auf
filzbezogene Holzfinger (Vorsetzer) übertragen. Mit Hilfe der durch
Saugluft betätigten Blasebälge (Tonbälge) konnte man zum einen einen
‘elastischen’
Anschlag erzielen, zum anderen war es erstmals möglich, durch Änderung
der Saugluftspannung (= Änderung des Vakuums) die Stärke des Anschlages
stufenlos zu variieren.
Die
zweite entscheidende Neuerung um die Jahrhundertwende war die Einführung
von gelochten Papierstreifen als Toninformationsträger und deren
pneumatische Abtastung. Eine Lochleiste (Gleitblock), die fest am Klavier
bzw. am Vorsetzer angebracht ist, enthält für jeden ‘pneumatisch’
spielbaren Ton ein Loch. Dieses Loch ist über eine luftdichte Leitung mit
einem Ventil am Tonbalg verbunden. Zu Beginn des Spiels wird der ganze
Gleitblock durch einen entsprechend breiten Papierstreifen (Notenrolle)
abgedeckt. Alle Löcher und somit alle Leitungen werden nun unter Vakuum
gesetzt, und die Notenrolle wird mit gleichmäßiger Geschwindigkeit über
den Gleitblock gezogen. Erscheint nun ein Loch in der Notenrolle, so kann
Luft durch das Loch des Gleitblocks in eine Leitung einströmen. Dieser
Luftstoß öffnet ein Ventil am Tonbalg, der nun an ein großes Reservoir,
das Unterdruck enthält (‘Windlade’), angeschlossen und leergesaugt
wird. Diese Bewegung wird zum Anschlag des entsprechenden Klaviertones
ausgenützt. Die Länge des Loches bestimmt die Länge des Tones. Durch
‘Ansteuern’ der verschiedenen Löcher des Gleitblockes durch
entsprechende Löcher der Notenrolle lassen sich alle Klaviertöne zu
exakt festgelegten Zeitpunkten betätigen. Eine Notenrolle kann bis zu 15
Minuten Klaviermusik aufnehmen. Der zum Leersaugen von Windlade, Tonbälgen
und Leitungen benötigte Saugwind wird durch ein Vakuumgebläse, das aus
mehreren großen Bälgen besteht, erzeugt.
Frédéric Chopin: Polonaise
As-Dur. Gegenüberstellung von konventioneller Notenschrift und
Lochstreifen in einer Interpretation von Harold Bauer. Bei längeren Tönen
werden aus Stabilitätsgründen keine Schlitze sondern perlenschnurartige
Lochreihen gestanzt. Auf die Wiedergabe der Betonungsbefehle, die sich an
den Rändern des Lochstreifens befinden, wurde verzichtet.
Die
ersten pneumatisch betätigten Klavierspielapparate erschienen wenige
Jahre vor der Jahrhundertwende in Amerika und ab 1901 in Deutschland auf
dem Markt. Es handelte sich um Vorsetzer, die vor jedes beliebige Klavier
oder jeden Flügel geschoben werden konnten. Das bekannteste amerikanische
Fabrikat war das Pianola der
Aeolian-Company, das 65 Klaviertöne spielen konnte. Kurz darauf erschien
in Deutschland die Phonola, ein
Vorsetzer der Firma Hupfeld aus Leipzig, der 73 Töne betätigen konnte.
Obwohl Pianola und Phonola Namen
bestimmter Fabrikate waren, bürgerten sich beide als Gattungsnamen für
selbstspielende Klaviere ein. Die Selbstspielmechanismen wurden ab 1905
auch direkt in Klaviere und Flügel eingebaut.
Schemazeichnung eines pneumatischen Klaviers. Im unteren Teil
befindet sich eine Balganlage zur Erzeugung von Vakuum, die bei diesem
Modell mit den Füßen betätigt wird. In anderen Modellen übernimmt ein
Elektromotor die Funktion des ‘Tretens’.
Die Saugluft gelangt durch Rohre in die oberhalb der Klaviatur angeordnete
Windlade, die für jeden Ton einen kleinen ‘Blasebalg’
enthält. Im oberen Teil befindet sich der Notenrollenkasten, in dem der
Lochstreifen mit Hilfe von Vakuum abgelesen wird. Soll ein Ton
angeschlagen werden, so erhält das entsprechende Ventil in der Windlade
einen Befehl, und der Tonbalg wird an das Vakuum angeschlossen und
leergesaugt. Diese Bewegung wird auf den Klavierhammer übertragen. Wird
schwaches Vakuum angelegt, so wird der Balg langsam leergesaugt und der
Ton erklingt leise; beim Anlegen von hohem Vakuum erklingt ein lauter Ton.
Die Höhe des Vakuums wird entweder selbsttätig über den Lochstreifen
oder durch entsprechend stärkeres oder schwächeres Treten des ‘Spielers’
bestimmt.
Der
‘Musizierende’ legte eine Notenrolle ein, setzte sich vor den
Vorsetzer, der seinerseits vor einem Klavier oder Flügel stand, und betätigte
zwei Fußtritte, ähnlich wie bei einem Harmonium. Durch diese Fußtritte
wurde nun über zwei große Blasebälge (‘Schöpfer’) ein Vakuum
erzeugt.
Geöffnete
Phonola. Die Fußtritte dienen der Erzeugung von Saugluft (Vakuum). In der
Mitte oben befindet sich der Notenrollenkasten mit dem Gleitblock, rechts
oben ist der Windmotor angeordnet, der die Notenrolle antreibt. In einem
schwarzen Kasten links unten befindet sich die Betonungseinrichtung.
Das Vakuum betätigte zum einen den ‘Windmotor’, der die
Notenrolle mit konstanter Geschwindigkeit über den Gleitblock zog; zum
anderen wurden die Tonbälge nach Maßgabe der Befehle der Notenrolle
leergesaugt und somit die entsprechenden Tasten des Klaviers angeschlagen.
Über Fußtritte betätigte Phonola. Mit den Händen wird die
Geschwindigkeit und die Dynamik gesteuert.
Der Spieler hatte nun die Möglichkeit, durch schwächeres oder stärkeres
Treten die Höhe des Vakuums und damit die Anschlagstärke zu
beeinflussen. Durch zusätzliche am Vorsetzer angebrachte Hebel konnte der
‘Interpret’ das rechte (und häufig auch das linke) Pedal betätigen
sowie zum Erzielen von Accelerandi oder Ritardandi die Geschwindigkeit der
Notenrolle steuern. Darüber hinaus verfügten viele Instrumente über
eine geteilte Windlade, das heißt, die linke und die rechte Hälfte der
Klaviatur lassen sich mit unterschiedlichem Vakuum - mit unterschiedlicher
Lautstärke - spielen.
Notenrollenkasten einer Phonola. Die Notenrolle (oben) wird von den
etwa hundert Löchern des Gleitblocks pneumatisch abgetastet und auf der
unteren Walze aufgerollt. Die Druckimpulse werden durch Bleirohre (unten)
zu den Ventilen der Tonbälge geleitet.
Foto: Heinrich Mehring
Phonola
mit eingelegter Notenrolle. Foto: H. Mehring
Die
Notenrollen wurden zur damaligen Zeit von Arrangeuren gezeichnet, das
Musikstück wurde metrisch exakt auf die Notenrolle übertragen und
anschließend gestanzt. Ein geschickter und musikalischer Spieler konnte
sowohl das Tempo als auch die Dynamik gezielt verändern sowie die Pedale
nach Wunsch betätigen. Somit waren die Voraussetzungen für eine echte
Interpretation gegeben und die Wiedergabe auf einem perfekt
‘gespielten’ Vorsetzer lässt sich kaum vom Spiel eines Pianisten
unterscheiden.
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für ein selbstspielendes, über Pedale betätigtes Klavier, um
1910.
Das
Reproduktionsklavier
Die
technische Perfektionierung der Klavierspielapparate, die nach der
Jahrhundertwende zu Hunderttausenden verkauft wurden, setzte sich stürmisch
fort: 1904 ließ sich die Firma Welte aus Freiburg im Breisgau ein
Steuersystem patentieren, das es erlaubte, das Klavierspiel ohne menschliche
Beeinflussung mit allen dynamischen Details wiederzugeben. Dies war die
Geburtsstunde des ersten Reproduktionsklaviers, des geheimnisumwobenen
Welte-Mignon-Systems. Damit bot sich die Möglichkeit, das Klavierspiel
eines Pianisten mit einem entsprechend präparierten Flügel auf eine
Notenrolle aufzunehmen und über ein Welte-Mignon-Instrument mit allen
agogischen und dynamischen Details wiederzugeben.
Ein
Elektromotor diente zum Antrieb des Vakuumgebläses. Alle Funktionen wie
Tonanschlag, Pedalbetätigung und Dynamik wurden durch Löcher der Notenrolle
gesteuert. Die Geschwindigkeitsänderungen wurden bei der Aufnahme durch die
Anordnung der Tonlöcher exakt festgelegt, so dass man die Geschwindigkeit
der Notenrolle während des Spiels nicht variieren musste. Es war nun
erstmals in der Geschichte der Musik möglich, das Klavierspiel eines
Pianisten aufzuzeichnen und im eigenen Heim erklingen zu lassen
beziehungsweise für die Nachwelt zu konservieren.
Für die
hohe Qualität dieses Verfahrens spricht, dass alle bedeutenden Pianisten und
auch viele Komponisten zwischen 1904 und ca. 1930 dieses Medium nutzten. So
besitzen wir heute unschätzbare Tondokumente vieler Liszt-Schüler wie etwa
Eugen d'Albert, Alfred Reisenauer, Conrad Ansorge, Hans von Bülow, Frédéric
Lamond, Bernhard Stavenhagen und Emil Sauer, aber auch Interpretationen von
Jgnaz Paderewski, Ferruccio Busoni oder Teresa Carreño. Die damals noch
junge Pianisten-Generation verewigte ebenfalls ihre Kunst: Namen wie Wilhelm
Backhaus, Elly Ney, Alfred Cortot, Edwin Fischer, Walter Gieseking und
Wladimir Horowitz erschienen in den Rollen-Katalogen der Firma Welte. Für
die Komponisten war das Reproduktionsklavier das ideale Medium zur
Konservierung ihrer Werkauffassung, und es wurde von vielen Meistern
genutzt, um eigene Werke einzuspielen. So gibt es Notenrollen von Edvard
Grieg, Max Reger, Manuel de Falla, Enrique Granados, Alexander Skrjabin,
Claude Debussy, Camille Saint-Saëns, Maurice Ravel, Pietro Mascagni,
Engelbert Humperdinck und Wilhelm Kienzl; selbst Richard Strauss und Gustav
Mahler scheuten sich nicht, Auszüge aus ihren Opern und Sinfonien auf
Klavierrolle einzuspielen.
Welte war
zwar der erste, aber beileibe nicht der einzige Hersteller von
Reproduktionsklavieren und Notenrollen: 1905 erschien das "DEA"-Instrument,
um 1918 das "Triphonola" der Firma Hupfeld; die Musikwerkefabrik Philipps
aus Frankfurt konstruierte 1908 das "Duca". Der amerikanische Markt wurde
von der Aeolian Company mit dem "Duo-Art" (ab 1913) sowie von der American
Piano Company mit dem "Ampico" (ab 1914) beherrscht.
Der
Selbstspielmechanismus wurde sowohl in Klaviere als auch in Flügel
eingebaut. Zudem stellten einige Firmen (Philipps, Welte, Hupfeld)
Selbstspielapparate her, die unabhängig von einem Instrument waren, die
sogenannten "Vorsetzer". Diese Geräte sind mit filzbezogenen Holzfingern
ausgestattet und können vor jedes konventionelle Klavier bzw. vor jeden
Flügel geschoben werden. Man ist somit bei der Wiedergabe nicht mehr auf ein
integriertes Instrument angewiesen, d.h. ein Vorsetzer kann mit jedem
modernen Konzertflügel kombiniert werden.
Bei
einem Vorsetzer betätigen mit Filz bezogene Holzfinger die Klaviatur
eines Flügels oder eines Klaviers. Foto: Heinrich Mehring
Für die
Bedeutung der Reproduktionsklaviere spricht die hohe Akzeptanz sowohl bei
den Interpreten als auch bei den Kunden. Selbstspielklaviere wurden zu
Hunderttausenden hergestellt und verkauft, und ein wohlhabender
bürgerlicher Haushalt war ohne ein solches nicht vollständig eingerichtet.
Die Verkaufsziffern überstiegen zeitweise sogar diejenigen der normalen
Klaviere. Die bedeutendsten Pianisten waren damals bei den
Musikwerke-Fabriken unter Vertrag, so wie sie es heute bei den großen
Schallplattenfirmen sind. Die Liste der in den Notenrollenkatalogen
vertretenen Künstler liest sich wie ein Almanach des Musiklebens des
beginnenden 20.Jahrhunderts. Pianisten, Komponisten und Dirigenten gaben
sich die Türen der Aufnahmestudios in die Hand. So machte z.B. Eugen
d'Albert bei den großen Herstellern von Reproduktionsklavieren nicht
weniger als 111 Aufnahmen - nicht gerechnet die kleineren Firmen, bei
denen er ebenfalls Notenrollen einspielte.
Das
Notenrollenrepertoire
Zwischen
1905 und ca.1925 wurden etwa 35.000 Notenrollen bei einer Vielzahl von
Musikwerke-Firmen bzw. Notenrollen-Produzenten eingespielt. Der Schwerpunkt
lag dabei auf dem klassisch-romantischen Klavierrepertoire sowie - dem
damaligen Geschmack entsprechend - bei den Operntranskriptionen, letztere
oft von bekannten Dirigenten wie Felix Mottl, Walter Damrosch, Cornelius
Rybner und Emil Paur interpretiert.
Notenrollen
von Hupfeld und Welte, eingespielt von (von links): Camille Saint-Saëns,
Wilhelm Backhaus, Alfred Cortot, Eugen d'Albert, Max Reger, Emil Sauer,
Artur Schnabel und Ferruccio Busoni. Foto:
Heinrich Mehring
Insbesondere die virtuose Klaviermusik von Chopin und Liszt ist nahezu
lückenlos vertreten. So gibt es etwa 1.300 verschiedene Einspielungen der
Werke Chopins. Während von den Mazurken und Préludes oft nur eine
Interpretation auf dem Markt war, gab es unter den Balladen, Nocturnes,
Polonaisen und Walzern echte Verkaufsschlager. So konnte man bei der
As-Dur Ballade zwischen 26 verschiedenen Aufnahmen wählen - darunter
Interpretationen von d’Albert, Ansorge, Backhaus, Carreño, Godowsky,
Pachmann, Paderewski und Artur Rubinstein. Manche der beliebteren Etüden
(z.B. Op.10 No.3 und Op.25 No. 1) wurden in 15 bis 20 Aufnahmen angeboten,
und das Nocturne Op.15 No. 2 lag sogar in 28 Interpretationen vor (u.a.
d’Albert, Busoni, Pachmann, Rubinstein, Saint-Saëns und Scharwenka).
Ferruccio
Busoni an einem Aufnahmeflügel für Lochstreifen.
Ähnlicher Beliebtheit erfreute sich das Klavierwerk von Franz Liszt - der
Musikliebhaber konnte unter 700 Aufnahmen wählen. Der ‘Hit’ der damaligen
Zeit war offensichtlich die dritte Konzertetüde (Des-Dur), die in 29
Aufnahmen vorlag (u.a. Harold Bauer, Frédéric Lamond, Teresa Carreño und
Sophie Menter). Ähnlich beliebt war der Liebestraum As-Dur mit 24
Einspielungen (d’Albert, Gabrilowitsch, Hofmann, Lamond, Ornstein,
Scharwenka).
Nicht ganz
so umfangreich war das Angebot an Werken Beethovens. Von einigen Sonaten gab
es nur wenige Einspielungen, während man bei den beliebteren Werken zwischen
einer Vielzahl an Interpretationen wählen konnte. So wurden von der Sonate
Op.27 No. 2 (Mondscheinsonate) 36 Rollen angeboten, wobei allerdings zu
beachten ist, dass die mehrsätzigen Werke fast immer auf mehrere Rollen
verteilt waren. Reich vertreten waren auch zwei- und vierhändige
Transkriptionen der Beethoven-Sinfonien.
Das Werk
Mozarts ist mit nur 170 Aufnahmen sehr lückenhaft repräsentiert. Ein ‘Hit’
war offensichtlich die d-moll Fantasie mit elf Einspielungen. Auffallend
ist, dass man prominente Namen wie Busoni, Carreño, d’Albert, Friedberg,
Hofmann, Lamond oder Paderewski in der Reihe der Mozart-Interpreten
vergeblich sucht. Auch Johann Sebastian Bach schien sich bei Pianisten und
Musikfreunden keiner allzu großen Beliebtheit zu erfreuen. So wurden aus dem
ersten Band des Wohltemperierten Klaviers nur elf Präludien und Fugen
angeboten, der zweite Band war gar nur mit fünf von diesen Werken vertreten.
Sieht man von den Bach-Transkriptionen (u.a. von Busoni, d’Albert, Cortot,
von Bülow) ab, so trifft man kaum auf bekannte Pianistennamen. Lediglich
Präludium und Fuge No. 5 aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers
scheint die ‘Großen’ gereizt zu haben, befinden sich doch so bedeutende
Pianisten wie Edwin Fischer, Harold Bauer und Wladimir Horowitz unter den
Interpreten.
Ob die
Pianisten im ersten Quartal des letzten Jahrhunderts Bach und Mozart auch in
den Konzertsälen vernachlässigten, mag die Musikgeschichte erhellen. Als
sicher darf angenommen werden, dass die Werke dieser Komponisten nicht dem
damaligen allgemeinen Musikgeschmack entsprachen, und die Marktstrategen der
Notenrollen-Hersteller deshalb auch keine breiten Käuferschichten hierfür
erwarteten.
Das Aufnahmeverfahren
Alle
Hersteller von Reproduktionsklavieren und Notenrollen verfügten über
spezielle Aufnahmeflügel, deren "Spielart" durch den Aufnahmemechanismus
möglichst wenig beeinflusst werden durfte. Sieht man einmal von den
Pedalbewegungen ab, so lässt sich jede Interpretation auf drei Variable
reduzieren: Zeitpunkt des Tastenanschlages, seine Dauer (Tonlänge) und die
Geschwindigkeit, mit der der Hammer auf die Saite auftrifft (Lautstärke).
Selbstverständlich kann ein Pianist diese drei Variablen auf vielfältigste
Weise beeinflussen.
Unproblematisch und sehr zuverlässig war die Aufzeichnung der Tondauer und
der Pedalbewegungen. Die 88 Tasten des Aufnahmeflügels waren mit
elektrischen Kontakten versehen, die ihrerseits mit dem Aufnahmeapparat, der
sich oft im Nebenraum befand, verbunden waren. Dieser Aufnahmeapparat
enthielt eine sich drehende Papierrolle sowie 88 an Elektromagneten
befestigte Schreibstifte für die Klaviertöne sowie zwei Stifte für die
Pedale. Betätigte der Pianist eine Taste, so wurde ein Stromkreis
geschlossen. Der nun fließende Strom erregte einen Elektromagneten, der
seinerseits den entsprechenden Stift auf das sich abspulende Papier drückte
und so einen Strich erzeugte. Wurde die Taste wieder freigegeben, so wurde
der Stromkreis unterbrochen und der Stift vom Papier abgehoben. Da sich das
Papier mit einer konstanten Geschwindigkeit bewegte, wurden alle
Zeitverhältnisse einschließlich der Pedalbewegungen exakt aufgezeichnet.
Anschließend wurde der Papierstreifen von Hand gestanzt - es entstand die
"Mutterrolle", die dann - noch ohne Dynamik - abgehört und bearbeitet werden
konnte.
Fehler der
Pianisten wurden grundsätzlich ausgemerzt. So schrieb Rudolf Serkin, der um
1928 Aufnahmen für Welte gemacht hatte, 1982 an einen Freund: Herr Welte
wußte genau Bescheid über die Musik und ich erinnere mich gut, dass er mir
sagte ich brauche keine Angst vor falschen Noten zu haben, er müßte dann nur
ein Loch in der Rolle woanders hinsetzen.
Wesentlich
schwieriger war die Aufzeichnung der Dynamik. Jede Firma benutzte ein
eigenes Codierungssystem, wofür an den seitlichen Rändern der Notenrolle
mehrere Spuren zur Verfügung standen. Die meisten Systeme beherrschten ein
kontinuierliches Lautstärkespektrum vom feinen Pianissimo bis zum kräftigen
Fortissimo. Einzig Duo-Art benutzte 16 festgelegte Lautstärkestufen, die
sich jedoch durch Nutzung des linken Pedals noch weiter differenzieren
ließen. Bei allen Systemen wurde die Dynamik für die linke und rechte
Klaviaturhälfte getrennt aufgezeichnet. Obwohl die Firma Welte angab, über
ein geheimes Aufzeichnungsverfahren für die Dynamik zu verfügen, gibt es
keinen Beweis für dessen tatsächliche Existenz. Von anderen Firmen ist
bekannt, dass die Dynamik von versierten Mitarbeitern während der
Aufnahmesitzungen in die Partitur notiert und anschließend auf die
Notenrolle übertragen wurde. Aeolian schnitt sogar zeitweise die
Aufnahmesitzungen auf Grammophonplatten mit, die zur Dokumentation der
Dynamik dienten. Erst 1926 und somit gegen Ende der Ära des
Selbstspielklaviers verfügte die American Piano Company über ein präzises
Aufzeichnungsverfahren für die Hammergeschwindigkeit.
Fragen der Authentizität
Bei der
Diskussion um die Authentizität einer Notenrollenaufnahme wird die Frage
nach einem selbsttätigen Aufzeichnungsverfahren für die Dynamik oft
überbewertet, denn in jedem Falle wurde die Mutterrolle von einem erfahrenen
Notenrolleneditor so lange bearbeitet, bis die Aufnahme vom Künstler als
seine Interpretation akzeptiert wurde. Zumindest bei den deutschen Firmen
dokumentierte der Pianist sein Einverständnis durch seine Unterschrift auf
der Notenrolle.
Zudem
bescheinigten viele Interpreten den Musikwerkefirmen die hohe Qualität Ihrer
Produkte, wobei sich die Gunst der Künstler auf alle Firmen verteilte. So
schreibt z.B. Eugen d'Albert 1909 über das Duca-System: "Duca ist das beste
Reproduktionsklavier, welches ich bis jetzt kennen lernte." Claude Debussy
hingegen meint: "Es ist unmöglich, die Welte-Apparate in ihrer vollendeten
Wiedergabe zu übertreffen." Wenn es auch Hinweise dafür gibt, dass diese z.T.
überschwänglichen Beurteilungen von den Firmen vorformuliert wurden, so darf
man doch davon ausgehen, dass kein Künstler ein solches Urteil gegen seine
Überzeugung unterschrieb. Josef Hofmann sagte einmal, erst als er seine
eigenen Aufnahmen hörte, habe er Feinheiten in seiner Interpretation
erkannt, deren er sich zuvor nicht bewusst war. Dies habe ihn ermutigt,
weiterhin an seinem Stil zu arbeiten.
Die
American Piano Company veranstaltete sogar öffentliche
"Quiz-Veranstaltungen“, um die naturgetreue Wiedergabe durch ihr
Ampico-Klavier zu belegen, wobei Selbstspielklavier und Pianist verdeckt
hinter Vorhängen spielten. So fand z.B. am 3. Februar 1920 in der Carnegie
Hall in New York ein Konzert mit mehreren der berühmtesten Pianisten statt:
neben Leopold Godowsky spielten Mischa Levitzki, Benno Moiseiwitsch und Leo
Ornstein je eine Komposition, gefolgt von der Notenrolleneinspielung
desselben Pianisten. Bei diesem Konzert war somit ein direkter Vergleich
zwischen dem Live-Spiel und der Aufnahme möglich, und die Kritiker lobten
die Nuanciermöglichkeiten des Ampico-Systems, das die charakteristischen
Merkmale eines jeden Pianisten aufnehmen und wiedergeben konnte und
glaubten, keinen Unterschied zwischen dem Live-Spiel und der Tonkonserve
feststellen zu können. Die Veranstaltung endete mit einem Triumph für das
Ampico. Man darf deshalb davon ausgehen, dass zur damaligen Zeit
Reproduktionsklaviere durchaus in der Lage waren, Klavierspiel authentisch
wiederzugeben.
Hört man
sich hingegen einige der heute angebotenen Überspielungen auf moderne
Tonträger an, so können berechtigte Zweifel an dieser Aussage aufkommen. Die
Ursache für eine unglaubwürdige oder gar schlechte ‚Interpretation’ liegt
jedoch in aller Regel nicht in der Notenrollenaufnahme, sondern in der
mangelhaften Wiedergabe durch die heute verwendeten Reproduktionsklaviere
bzw. in schlecht erhaltenen Notenrollen. Auf einige der häufigsten
Fehlerquellen sei im folgenden hingewiesen. Voraussetzung für eine optimale
Wiedergabe von Notenrollen ist eine gründliche Restaurierung des
Reproduktionsinstrumentes. Die wesentlichen Werkstoffe des
Selbstspielmechanismus sind neben Holz Gummituch, Leder und Schlauch. Da
jede Undichtigkeit zwangsläufig zu einer Fehlfunktion und zu einem
Dynamikverlust führt, müssen diese Werkstoffe fachgerecht ersetzt werden.
Ohrenfällig werden diese Zusammenhänge beim Anhören früher Überspielungen
von Welte-Rollen auf Schallplatten: Die Dynamik ist meist stark eingeengt
und kommt kaum über ein mittleres Forte hinaus. Hierdurch wirken die
Interpretationen farb- und konturlos. In einem Booklet liest man : Die
Wiedergabe im Grenzbereich des äußersten Pianissimo und Fortissimo scheint
nicht möglich gewesen zu sein, denn die Einspielungen bewegen sich
durchgehend im mittleren Dynamikbereich. Nun – eine gründliche
Restaurierung und eine fachgerechte Regulierung des Wiedergabeinstrumentes
hätten hier sicherlich Wunder bewirkt.
Neben der
Restaurierung ist die Justierung der Pneumatik und die Regulierung der
Klaviermechanik von entscheidender Bedeutung. So gibt es für alle Systeme
spezielle Testrollen, mit deren Hilfe sowohl Geschwindigkeit als auch Pedal-
und Dynamikfunktionen exakt einreguliert werden können. Dies erfordert
allerdings gute Kenntnisse und langjährige Erfahrung. So sollte z.B. die
Einhaltung der exakten Geschwindigkeit bei Welte kein Problem sein, legte
die Firma doch fest, dass die Notenrolle mit einer Geschwindigkeit von 143
cm pro 30 Sekunden am Gleitblock vorbeilaufen soll. Trotz der exakten
Justierung der Anfangsgeschwindigkeit kommt es insbesondere bei langen
Kompositionen zu beträchtlichen Abweichungen durch den zunehmenden Umfang
der aufwickelnden Rolle. Dadurch erhöht sich die Papiergeschwindigkeit
kontinuierlich, so dass ggf. das Tempo etwas zurückgenommen werden muss. So
variiert z.B. die Dauer der Figaro-Fantasie von Mozart/Liszt, Welte-Rolle
Nr. 4128, gespielt von Wladimir Horowitz, bei drei verschiedenen
Plattenaufnahmen zwischen 11'32'' und 14'15''.
Von großer
Bedeutung für eine überzeugende Wiedergabe von Notenrollen ist das präzise
Arbeiten des rechten Pedals, da eine falsche Einstellung das musikalische
Ergebnis geradezu entstellen kann. Oft ist auch eine Dominanz der linken
Klaviaturhälfte auffallend: Melodietöne und Arpeggien werden an vielen
Stellen durch einen zu lauten Bass überdeckt. Die Ursache hierfür ist oft in
einer ungenügenden Justierung der Dynamik-Balance der beiden
Klaviaturhälften des Wiedergabeinstrumentes zu finden.
Die
Verbreitung von Schallplatte und Rundfunk führte jedoch zwangsläufig zum
Niedergang der Musikwerke-Industrie und des Selbstspielklaviers, konnte
man nun doch auf sehr viel billigere und einfachere Art Musik konservieren
und im eigenen Heim erklingen lassen. Eine Musikwerke-Fabrik nach der
anderen schloss ab 1925 ihre Tore, und die Erzeugnisse einer einst blühenden
Industrie gerieten schnell in Vergessenheit.
Jürgen Hocker©
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